Bis vor 30 Jahren gab es auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland zwei Staaten. Die Grenze zwischen ihnen verlief von Nord nach Süd, von der Ostsee bis ins Fichtelgebirge in Bayern. Sie bestand aus einem gerodeten Streifen mit Wachtürmen. Auf der östlichen Seite patrouillierten Soldaten mit Fahrzeugen und zu Fuß mit Hunden. Potenzielle Flüchtlinge wurden scharf beschossen. Auch mitten durch die heutige Haupstadt Berlin zog sich so ein Todesstreifen, außerdem rund um die Enklave West-Berlin. Sie war von Westdeutschland aus mit dem Auto nur per Transit auf festgelegten Strecken zu erreichen. Die Zeit, die man brauchte, um West-Berlin zu erreichen, wurde überprüft. Und wer zu lange unterwegs war, wurde von DDR-Grenzschützern ins Kreuzverhör genommen. Hatte man sich mit jemandem getroffen? Etwas ins Land geschmuggelt? Oder heraus?
Als ein knappes Jahr nach dem Mauerfall, am 3. Oktober 1990, die beiden Staaten zu einem einzigen verschmolzen wurden, waren solche Erinnerungen schon unwirklich geworden. Die friedlichen Revolutionäre in der DDR hatten das verkrustete Regime hinweggefegt, die Deutschen konnten bereits zwischen Ost und West hin- und herreisen. Von der Euphorie des Mauerfalls, die über den gesamten Winter 1989 angehalten hatte, war allerdings auf beiden Seiten nicht mehr viel übrig. Die Party war vorbei, es folgten die Mühen der Ebene. Wie hart die folgenden Jahre dann vor allem für viele Bürger der so genannten „neuen Bundesländer” werden würden, das hatte sich damals wohl kaum jemand vorstellen können.
30 Jahre – ist die Einheit nun vollzogen? Sind die Deutschen wirtschaftlich, politisch und mental zusammengewachsen? Eine pauschale Diagnose ist schwer zu stellen. Vielerorts hat der Osten aufgetrumpft, in Sachen Lebensqualität, Innovationskraft, Schönheit und Natur. Was für Juwele sind Görlitz, Dresden und Leipzig, die Hansestädte an der Ostsee! Die Kaiserbäder, das Erzgebirge, der Harz. Was nicht verdecken kann: Mit der Angleichung der Lebensverhältnisse hat es größtenteils nicht geklappt. Zu viele Betriebe waren marode und mussten nach der Wende geschlossen werden. Zu viele gut ausgebildete Fachkräfte haben Ostdeutschland in Richtung Westen verlassen.
Angleichung in kleinen Schritten
Heute beträgt die durchschnittliche Wirtschaftskraft im Osten etwa 73 Prozent des Niveaus im Westen, so der aktuelle Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit. Die Annäherung vollzieht sich demnach langsamer als gedacht. „Die neuen Bundesländer mit und ohne Berlin verkürzen den Abstand ihrer Wirtschaftsleistung gegenüber dem bundesdeutschen Durchschnitt stetig weiter, wenn auch in kleinen Schritten”, so sagt es Marco Wanderwitz, Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer. Zugleich verzeichnet er „teilweise noch erhebliche Disparitäten zwischen alten und neuen Ländern bei den Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten, bei der Ausstattung mit Infrastrukturen und Angeboten der Daseinsvorsorge und bei den Wirtschaftsindikatoren.”
Sprich: Die Verhältnisse sind sehr unterschiedlich, aber sie unterscheiden sich auch je nach Region stark. Mancherorts im Osten ist die Arbeitslosigkeit sogar geringer als in Westdeutschland. Was fehlt, sind Leuchttürme. Kein einziger Dax-Konzern hat seinen Hauptsitz in einem der ostdeutschen Länder. Die Wirtschaft ist kleinteilig. Große Mittelständler fehlen. „Gerade diese sind oft besonders aktiv bei Investitionen, führen einen Großteil der privaten Forschung und Entwicklung durch, tragen wesentlich zu Innovationen bei und partizipieren an globalen Wertschöpfungsketten”, so Wanderwitz. Besonderes Augenmerk liegt auf den Clusterinitiativen wie der optoelektronischen Industrie um Jena oder dem Mikroelektronikcluster um Dresden. Aktiv sind die Cluster in den neuen Ländern unter anderem in den Bereichen Biotechnologie, Medizintechnik und Gesundheitswirtschaft, aber auch in der Produktionstechnik, den optischen Technologien und der Photonik sowie der Elektrotechnik, Messtechnik und der Sensorik.
Solche Innovationscluster haben eine hohe Bedeutung für den wirtschaftlichen Strukturwandel. Und Städte wie Dresden und Leipzig entwickeln sich zunehmend zu Innovationszentren. Immer mehr junge Unternehmen gründen sich mit guten Ideen, andere siedeln sich gleich im Osten an. Ein Fanal war zweifellos der Bau der „Gigafactory” des E-Auto-Herstellers Tesla in Brandenburg, mit Folgeeffekten auf die Wirtschaftsentwicklung, die jetzt noch nicht absehbar sind. Zukunftstechnologien, Erneuerbare Energien, viel Platz für Ideen – der Osten auf der Überholspur. Dann kam Corona.
Harter Einbruch der Konjunktur
Schlagartig brach die Weltwirtschaft ein, Deutschland als Exportnation traf es besonders hart. Aber welches Glück, dass die Krise in eine Zeit fiel, in der die Staatskassen aufgrund eines jahrzehntelangen Aufschwungs prall gefüllt waren! Kaum ein Industrieland kommt ähnlich gut durch diese Krise wie dieses. Flexibilität, Resilienz und Disziplin – das sind Eigenschaften, die in Deutschland derzeit hoch im Kurs stehen. Damit ist jede Krise zu schaffen. Und auch diese hier wird bald ausgestanden sein. Nach einem scharfen Knick von beinahe zehn Prozent im zweiten Quartal gegenüber dem Vorquartal – dem tiefsten jemals in der Nachkriegszeit gemessenen Minus – zeigt die Wachstumskurve wieder steil nach oben.
„Der Aufschwung hat schneller und breiter eingesetzt, als wir es zu hoffen gewagt haben“, sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier, als er Anfang September die Herbstprognose der Bundesregierung vorstellte. Er schien selbst erstaunt. Ursache für den im internationalen Vergleich glimpflichen Verlauf der Wirtschaftskrise sei der „gute Zusammenhalt” zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft - ein Erfolg, der wider den Kleinmut und Egoismus von Esoterikern und Neonazis erzielt wurde. Das pragmatische Vorgehen habe Schlimmeres verhindert, sagte er. Einen weiteren Lockdown wie im Frühjahr wird es wohl nicht geben, sofern die Hygieneregeln beachtet werden.
Rückenwind für die optimistische Sicht des Bundeswirtschaftsministers brachten neue Arbeitsmarktdaten der Bundesagentur für Arbeit: Danach nimmt die Kurzarbeit bereits stark ab, das Bundeswirtschaftsministerium rechnet inzwischen im Jahresdurchschnitt 2020 nunmehr mit 2,5 Millionen Kurzarbeitern. Es habe sich gezeigt, dass die ersten Schätzungen zur Kurzarbeit mit teilweise zehn Millionen viel zu hoch waren.
Wirtschaft erholt sich schnell
Hoffnung auf rasche Erholung der Wirtschaft hatte auch das ifo-Geschäftsklima gemacht, das seit Mai steigt und seit Juli klar Aufschwung signalisiert. Die Herbstprognose des Münchner Wirtschaftsinstituts sieht vor, dass in Deutschland die Wirtschaftsleistung im Jahresdurchschnitt voraussichtlich um 5,2 Prozent niedriger sein wird als im Jahr 2019. Beim unterstellten Erholungstempo wird das Bruttoinlandsprodukt im vierten Quartal 2021 sein Vorkrisenniveau erreichen. Die jahresdurchschnittliche Wachstumsrate liegt dann im kommenden Jahr bei 5,1 Prozent. 2022 wird sich die Erholung fortsetzen und das Bruttoinlandsprodukt weiterhin überdurchschnittlich mit 1,7 Prozent zulegen.
Zwar sei die Rezession tiefgreifend, doch sieht das ifo-Institut den Beitrag der industriellen Wertschöpfung zur gesamtwirtschaftlichen Schrumpfung als vergleichsweise gering an. Mit der schrittweisen Lockerung der Shutdown-Maßnahmen habe spätestens im Sommer überall die Erholung eingesetzt. Vielerorts verbesserte sich die Stimmung von Unternehmern deutlich, von Haushalten aber nur zum Teil. „Eine vollständige Erholung der Weltwirtschaft dürfte allerdings noch auf sich warten lassen”, so die ifo-Experten, „solange das Virus weiterhin grassiert und Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen nimmt.”
Auch die Nürnberger Marktforscher von GfK sagen Besserung voraus. Danach prognostizieren die Experten für Oktober einen Konsumklima-Wert von minus 1,6, nach minus 1,7 im September. Auf dem Höhepunkt der Corona-Krise war ein Negativrekord erreicht worden. Experten hatten allerdings einen stärkeren Anstieg des Barometers auf minus 1,0 Zähler erwartet. „Offenbar sind die umfangreichen Konjunkturpakete für Unternehmen und Verbraucher geeignete Maßnahmen, um Deutschland aus der schwersten Rezession der Nachkriegszeit zu helfen”, erklärte GfK-Experte Rolf Bürkl zum Ergebnis der aktuellen Umfrage unter rund 2.000 Verbrauchern.
Die Verbraucher sähen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht ganz so dramatisch wie ursprünglich befürchtet, so Bürkl. Wesentlich mitverantwortlich für die Stabilisierung der Lage sei die recht positive Einkommenserwartung der Deutschen. Laut Bürkl ist das aber unter anderem auch auf die Rückkehr vieler Menschen aus der Kurzarbeit zurückzuführen – was automatisch die Einkommenssituation verbessert.
Mehr Europa gelernt
Auch etwas Gutes hatte die Krise: Die europäischen Staaten haben mehr Europa gelernt. Der Widerstand gegen innergemeinschaftliche Hilfen, die nicht rückzahlbar sind, wurde überwunden. Mit dem Wiederaufbaufonds oder „Recovery Fund” im Umfang von 500 Milliarden Euro wird sich die Europäische Union erstmals gemeinsam verschulden. Mit dem Geld sollen zusätzlich zum EU-Haushalt in den kommenden drei Jahren Regionen und Wirtschaftsbereiche, die besonders durch die Corona-Pandemie geschädigt wurden, nicht zurückzahlbare Zuschüsse auszahlen. Die Rückzahlung wird langfristig über den EU-Haushalt erfolgen.
Und auch wenn viele im reichen Norden schon von der „Schuldenunion” sprechen und sich vor weiteren Forderungen fürchten: Das Signal haben die Menschen in Südeuropa verstanden – als etwas, das innerhalb einer europäischen Werteunion unabdingbar ist: Solidarität. Und das ist unbezahlbar. Da kann man noch so oft die Binsenweisheit anbringen, dass, wenn Europa gut durch die Krise kommt, alle davon profitieren. Doch hier wurde mit den Milliarden ein Gefühl mitgegeben, das besagt, dass die einen für die anderen einstehen. Nicht auf der Grundlage von Schuldzuweisungen, sondern mit Verständnis für die Verschiedenheit von Rahmenbedingungen. Das wird Europa verändern.
Am 1. Juli 2020 hat Deutschland für sechs Monate die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union (EU) übernommen. Die Deutsche Ursula von der Leyen ist Kommissionspräsidentin. Und sie schraubt die Ansprüche hoch: Europa soll Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit und Klimaschutz werden. Der „European Green Deal” ist das ehrgeizigste Nachhaltigkeitsprojekt der Welt. Bis 2030 sollen EU-weit mindestens 50 Prozent der Treibhausgase gegenüber 1990 eingespart werden. Vor zwei Wochen, in ihrer Grundsatzrede zur Lage der Europäischen Union, betonte von der Leyen, sie wolle sogar 55 Prozent anstreben – allerdings müssen die Mitgliedstaaten dem neuen Klimaziel noch zustimmen. Und nicht nur das: „Der erste klimaneutrale Kontinent zu werden ist unsere Mission”, erklärte sie weiter.
Technologien für die Zukunft
Die technologischen Lösungen hierzu stehen bereit. Und sie werden in Deutschland und Europa entwickelt. Dazu gehört die Elektrifizierung des Verkehrssektors auf Strom, der aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. Dazu zählt die Umstellung der Stahlgießereien auf Hochöfen, die mit Wasserstoff betrieben werden. Dazu zählt die energetische Gebäudesanierung sowie der nachhaltige Wohnungsbau. Dazu zählen der Kohleausstieg und reziproke der weitere Ausbau der Wind- und Solarenergie, sowie der Ausbau der Gaskraftwerksinfrastruktur als Brückentechnologie. Dazu zählen die Maschinenbauer, deren Produkte in der Industrie 4.0 immer präziser, effizienter und nachhaltiger gefertigt werden. Allein die deutschen Autobauer, bislang Garanten für eine stabile industrielle Wertschöpfung, müssen sich nachhaltig reformieren, um den Sprung in die Zukunft zu schaffen. Es ist verblüffend, wie es mit dem Tesla-Chef Elon Musk ein einzelner Geschäftmann vermag, die gesamte Branche vor sich herzutreiben.
Im Schatten der Corona-Krise werden Weichen gestellt. Das nächste Jahr wird hoffentlich eines, in dem man sich wieder Innovationen widmen und in die Zukunft planen kann. Und sich den schönen Dingen widmen kann: Ideen entwickeln. Reisen. Sich begegnen. In Deutschland, in Europa.