Intelligente Stromnetze

Künstliche Intelligenz, Edge Computing und digitale Zwillinge sind entscheidende Instrumente bei der Energiewende. 

Illustration: Emanuela Carnevale
Illustration: Emanuela Carnevale
Lars Klaaßen Redaktion

Das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 ist ökologisch begründet, der Weg dorthin wird die technologisch größte Transformation seit Beginn der Industrialisierung. Denn eine Abkehr von den fossilen Energieträgern Kohle, Öl und Erdgas hin zu erneuerbaren Quellen wie Wind, Sonne und Biomasse bringt nicht bloß den Austausch unseres Treibstoffs mit sich. Wir müssen das ganze System unserer Energieversorgung völlig neu konzipieren. 

Bislang haben in erster Linie leistungsstarke Kraftwerke vor allem Strom, aber auch Wärme geliefert, für Großabnehmer in der Produktion bis hin zu einzelnen Haushalten. Stattdessen speisen schon heute mehr und mehr kleine Akteure Energie ins Netz ein. Wer bisher Energie ausschließlich konsumiert hat, kann sie auch produzieren: Auf dem Energiemarkt tummeln sich zunehmend sogenannte Prosumer. Strom fließt entsprechend dem jeweils aktuellen Verhältnis von Angebot und Nachfrage bei den einzelnen Prosumern mal in die eine und mal in die andere Richtung. Hierbei spricht man vom Smart Grid, dem intelligenten Netz. 

Je nachdem, ob und wo die Sonne scheint, beziehungsweise der Wind weht, schwankt der Input in unser Energiesystem schon heute. Je mehr wir auf die Erneuerbaren zurückgreifen, desto volatiler wird die Versorgung. Es gilt also, überschüssigen Strom, der nicht sofort verbraucht wird, zwischenzuspeichern. Auch einen beträchtlichen Teil unseres Wärmebedarfs werden die Quellen Wind und Sonne abdecken. Um Strom zu speichern, ihn als Brenn- und Kraftstoff nutzen zu können, soll er künftig in Wasserstoff und bei Bedarf wieder zurück in Strom umgewandelt werden. Damit dieses hochkomplexe System eine stabile Energieversorgung sicherstellen kann, bedarf es einer entsprechenden Steuerung mithilfe von Digitalisierung, wobei Künstliche Intelligenz (KI) eine entscheidende Rolle spielt.

Illustration: Emanuela Carnevale
Illustration: Emanuela Carnevale
Illustration: Emanuela Carnevale
Illustration: Emanuela Carnevale

»Parallel zum Stromnetz entsteht ein Datennetz.«

So entsteht parallel zum Stromnetz im Zuge der Energiewende ein Datennetz, mit dem die Erzeugung, die Verteilung, aber auch die Speicherung der erzeugten Energie koordiniert werden. Die Informations- und Kommunikations-Technologie dahinter ist in der Lage, die schwankende Energiezufuhr und die Stromversorgung im Netz intelligent zu regeln. Erkennt dieses Smart Grid beispielsweise, dass mehr Strom produziert als benötigt wird, lassen sich einzelne Anlagen wie Windräder gezielt drosseln – solange solche Überschüsse sich nicht zwischenspeichern lassen. „Das Netz sicher zu steuern, wird zu einer komplexen und immer schwieriger werdenden Aufgabe“, sagt Katrin Schulte, Spezialistin für Stromnetze von der Fachhochschule Bielefeld. Die 26-Jährige hat ein internationales Forschungsprojekt mit auf den Weg gebracht, das einen Ansatz zur Lösung ausarbeitet: verteilte, also dezentral arbeitende, KI zur Steuerung des Stromnetzes – im englischen Projekttitel AI4DG abgekürzt. 


Dezentrale Energieversorgung durch KI 
 
 

KI wird heute schon in Ansätzen zur Steuerung der Stromversorgung erforscht. Aber das Bielefelder Forschungsteam und seine französischen Kolleginnen und Kollegen gehen noch weiter und verknüpfen die KI mit Edge Computing. Die Daten werden nicht zentral in der Cloud verarbeitet, sondern dezentral genau dort, wo sie erzeugt werden. „Wir erhöhen damit die Sicherheit und den Datenschutz“, erläutert Schulte. „Denn Stromversorgung gehört zur kritischen Infrastruktur und muss gewährleistet sein.“ Wenn eine dezentrale KI-Einheit ausfällt, kann eine andere sofort die Kontrolle übernehmen. Und wenn die Daten nicht verschickt werden müssen, können sie unterwegs nicht verloren gehen oder gehackt werden. Ein weiterer Vorteil: Die Daten können vor Ort mit geringerer Verzögerung verarbeitet werden.

Für eine sichere, zuverlässige, kostengünstige und zugleich ökologische Stromversorgung auf dem Land setzen sich die Partner im Projekt RIGRID ein, kurz für Rural Intelligent Grid. 90 Prozent der Fläche in Deutschland sind laut Bundesregierung ländlich geprägt. Etwa 44 Millionen Menschen leben auf dem Land, das sind mehr als die Hälfte der Einwohner. Dies gilt für ganz Europa: Die Mehrheit der Bevölkerung lebt nicht in urbanen Zentren. RIGRID hat ein regionales, intelligentes Energieversorgungsnetz und -managementsystem entwickelt und in der polnischen Stadt Punsk sowie in der Kommune Dardesheim im Harz in Sachsen-Anhalt erprobt. Mit diesem neuen Werkzeug lassen sich neue Energieinfrastrukturen und -versorgungssysteme im ländlichen Raum optimal planen, etablieren und betreiben. Das interaktive Planungstool umfasst drei Module: Mit dem virtuellen 3D-Visualisierungsmodul können neue Investitionen hinsichtlich der Verfügbarkeit erneuerbarer Energiequellen überprüft werden. Mit dem Wirtschaftsmodul lässt sich die Rentabilität der Investitionen unter der Berücksichtigung der potenziellen Technologien, der lokalen Umweltfaktoren sowie der Verbrauchs- und Geodaten bewerten. Das technische Modul komplettiert die Software. Hiermit können Konzepte für Niederspannungs- und Mittelspannungs-Microgrids und deren Komponenten erstellt werden.

Immobilien mit Köpfchen


Im Zuge der Energiewende werden sich mit dem Stromnetz auch die Häuser selbst wandeln müssen. Seit Januar 2020 sind alle Haushalte mit einem jährlichen Stromverbrauch von mehr als 6.000 Kilowattstunden (kWh) verpflichtet, Smart Meter einbauen zu lassen. Solche digitalen, intelligenten Messsysteme sind Teil des Smart Grids und kommunizieren den Stromverbrauch und damit den Strombedarf in Echtzeit an die Netzbetreiber. Auch der Verbraucher erhält in Echtzeit Transparenz darüber, wie viel Strom er gerade verbraucht. Mit dem neuen Energiewirtschaftsgesetz will das Wirtschaftsministerium dafür sorgen, dass dynamische Stromtarife in Verbindung mit Smart Metern flächendeckend auf den Markt kommen. Sie passen sich preislich der Nachfrage und dem Angebot im Netz an und sollen so Verbraucher und Klima entlasten.

 Solche Systeme gehören bislang noch nicht zum Standard in jedem Bauprojekt. Noch schlagen Smart Meter gerade für kleinere Betreiber oder private Haushalte mit vergleichsweise hohen Kosten zu Buche. Mit ihrer wachsenden Verbreitung dürften diese Kosten aber voraussichtlich sinken. Erste Beispiele zeigen, wie die Energiewende sich selbst im Bestand konsequent umsetzen lässt. So wurden beim Projekt SQUARE, an dem das Planungs- und Beratungsunternehmen Drees & Sommer mitwirkte, in Mannheim zwei Zwölffamilienhäuser energetisch vorbildlich saniert und in ein Smart Grid eingebunden. Das Netz umfasst Wärmepumpen, Stromerzeugung mittels Photovoltaik in der Fassade und auf dem Dach, Elektroladeinfrastruktur im Gebäude und im Quartier. Die Niedrigstenergie-Wohngebäude arbeiten zudem mit neuen Energieabrechnungs- und Visualisierungsmethoden.

„Großes Potenzial bietet auch die Reduzierung des Energieverbrauchs durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz“, betont Klaus Dederichs, Partner bei Drees & Sommer, der unter anderem die Themen Digitalisierung, Industrie 4.0 und Data Center verantwortet. Sogenannte Customized Smart Buildings könnten nicht nur die technischen Anlagen miteinander vernetzen, sondern auch eine Vielzahl von Daten erheben. „Es handelt sich um Immobilien mit Köpfchen – künstliche Intelligenz verknüpft alle technischen Anlagen, Sensoren sowie Planungs-, Betriebs- und Nutzerdaten intelligent miteinander und steuert so die Prozesse im Gebäude in optimaler Weise.“ Dadurch, so die Vision, wird die KI das Gebäude und den damit verbundenen Energiebedarf nicht nur selbst optimieren, sondern in nicht allzu ferner Zukunft auch verlässlich prognostizieren und das den Netzbetreibern mitteilen. Dederichs prognostiziert: „Wenn es heißt: ‚Ihre Strombestellung bitte‘, dann können die Gebäude als Cognitive Buildings antworten.“


Echtzeitinformationen für das virtuelle Abbild
 
 

Auf dem Weg zu solch intelligent agierenden Gebäuden besteht eine Herausforderung darin, relevante Daten überhaupt erst zu erfassen. Von der Planung über den Bau bis hin zum Betrieb eines Gebäudes fallen enorme Datenmengen an, die von einer Vielzahl von Akteuren erzeugt werden. Diese wertvollen Informationen sind aber nicht allen Beteiligten während des gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes zugänglich. Das führt zu unnötigen Effizienzverlusten. Veraltete und unvollständige Informationen können sogar zu falschen und fehleranfälligen Entscheidungen führen, die sich negativ auf die Leistung von Gebäuden auswirken und die Betriebskosten erhöhen. 

Die Nemetschek Group präsentierte im Oktober 2023 den ersten horizontalen und offenen Digital Twin, die Plattform dTwin, die alle relevanten Informationen bündeln kann. Solch ein Zwilling ist das digitale Abbild eines realen Objekts. Das kann eine Komponente, ein System oder ein ganzes Gebäude sein. Entscheidend ist, dass das virtuelle Abbild kontinuierlich mit Echtzeitinformationen des eigentlichen Objekts gefüttert wird, die dessen aktuellen Zustand widerspiegeln. Damit ermöglicht ein digitaler Zwilling nicht nur eine genaue Visualisierung, sondern auch einen Erkenntnisgewinn durch Analysen, Simulationen und Optimierungen. 

Wie schnell wir die Energiewende vollziehen, entscheidet sich bei der Digitalisierung: Von den Netzen bis zu den Häusern ist die Zukunft datengetrieben. 
 

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