Digitaler Mittelstand

Die Coronapandemie legt schonungslos offen, wie digital Deutschland wirklich ist. Unternehmen, die auf dem Weg zur Industrie 4.0 sind, müssen viele Hindernisse überwinden.
Illustration: Magda Wilk
Axel Novak Redaktion

Bis vor kurzem schien es so, als hätten die Unternehmen in Deutschland nichts besseres zu tun, als kurz- oder mittelfristig den digitalen Wandel zu vollziehen. Erfolgreich natürlich. „Die Digitalisierung der Industrieunternehmen in Deutschland macht Fortschritte“, stellte der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom) noch im Mai 2020 fest. „Die produzierende und verarbeitende Industrie ist der Kern der deutschen Wirtschaft – und sie verfügt über ein riesiges digitales Potenzial. Fast alle Unternehmen haben sich auf den Weg in Richtung Industrie 4.0 gemacht“, so Bitkom-Präsident Achim Berg. Auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) bescheinigt den 3,8 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen hierzulande eine zunehmende digitale Affinität.


Doch das Coronavirus löste nicht nur eine Pandemie aus, sondern brachte auch das wirtschaftliche Leben weltweit zum Erliegen und setzt seitdem der Modernisierung von Unternehmen neue Grenzen.  „Industrie-4.0-Projekte werden zwar weiter vorangetrieben, die dafür verfügbaren Mittel sind jedoch deutlich begrenzter. Wir sehen allerdings – je nach Unternehmen – deutliche Unterschiede in den Handlungsspielräumen und den aktuellen Vorhaben“, sagt Thomas Döbler, Leiter Energy, Resources & Industrials bei der Unternehmensberatung Deloitte.


Dabei steht vor allem der Mittelstand vor gewaltigen Herausforderungen. „Die Digitalisierung kommt zwar immer mehr in der Breite des deutschen Mittelstands an – die Masse der mittelständischen Unternehmen vollzieht sie bisher allerdings in kleinen Schritten“, sagt Dr. Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW Bankengruppe. Sie hofft, dass die Coronakrise als Beschleuniger der digitalen Transformation im Mittelstand wirkt. „Viele Unternehmen sind plötzlich zur Digitalisierung gezwungen.“


Tatsächlich konnten Unternehmen, die sich vor der Krise digitaler ausgerichtet hatten, in der Krise agiler und flexibler reagieren. Schließlich bauen die meisten innovativen Geschäftsideen im Shutdown auf digitalen Lösungen auf. Doch Digitalisierung ist nicht gleich Digitalisierung. Denn zum einen entscheidet die Größe eines Unternehmens über die Digitalisierungsprojekte und die Investitionen. Vor allem Industrie-4.0-Lösungen machen erst ab einem bestimmten Digitalisierungsgrad Sinn. Kleinere Unternehmen, die erst vor kurzem den digitalen Wandel angegangen sind, müssen jedoch jetzt um ihr Überleben kämpfen.


Zum anderen gehen viele Entscheider die Digitalisierung und den oft erheblichen Handlungsbedarf heute ganz anders an. „Projekte mit operativem Charakter und raschem Return on Investment, zum Beispiel zur Prozesseffizienz, werden priorisiert“, so Deloitte-Berater Döbler.


Wie stark die Coronapandemie die Bereitschaft der Unternehmen verändert, den digitalen Umbau nach dem Stillstand erneut und verstärkt anzugehen, ist allerdings noch unklar. Die Motivation, in umfassende Strategien zu investieren, ist bei vielen Unternehmen zurückgegangen. „Projekte mit einem explorativen Charakter werden vielfach zurückgestellt oder ganz gestoppt“, sagt Döbler. „Die spannende Frage ist jetzt: Wie setzt man in der aktuellen Situation mit begrenzten Mitteln die richtigen Schwerpunkte und verschafft sich darüber Wettbewerbsvorteile?“


Die Pandemie hat nicht nur den digitalen Wandel beschleunigt und angetrieben, sondern auch die bisherigen Versäumnisse in der Digitalisierung offengelegt. „Fragmentierte und für Remote Working unzureichende IT-Landschaften sind nur ein Beispiel für diese Versäumnisse. Wir sehen darüber hinaus signifikante Lücken in der Ressourcenausstattung, zum Beispiel was eigenes IT-Personal, Programmierkenntnisse, Kenntnisse in Cloud-Technologien oder ganz allgemein Digitalisierungskenntnisse betrifft“, so Thomas Döbler. Für ihn besteht ein großer Widerspruch zwischen der hohen Bedeutung der Mitarbeiterkompetenzen für das Unternehmen und der Realität.


Corona hat jede Menge Handlungsbedarf freigelegt. Ein Beispiel ist die Nutzung von Cloud-Anwendungen. Schon 2019 nutzten drei von vier Unternehmen solche IT-Leistungen. Der Vorteil solcher externen Services ist, dass Standardanwendungen wie Office-Pakete und Software zur Geschäftsressourcenplanung zur Verfügung stehen, samt der Möglichkeit, diese individuell zu skalieren: Unternehmen passen die Zahl der Lizenzen an ihren jeweiligen und aktuellen Bedarf an. Und schließlich ist die Cloud ein Innovationsmotor: Auch kleinere Unternehmen haben über Plattformen Zugang zu Applikationen, von denen sonst meist Firmen mit großen IT-Abteilungen und üppigen Budgets vorbehalten waren. So können kleinere Mittelständler über Cloud Services KI-Systeme nutzen, um beispielsweise als Maschinen- und Anlagenbauer Algorithmen für zusätzliche Services rund um die Anlagen und Maschinen zu entwickeln.


Doch der digitale Wandel ist auch eine Frage des Budgets: Industrie-4.0-Anwendungen verlangen eine umfassende Digitalisierung, um ihre ganze Wirkkraft zu entfalten. Mittelständische Unternehmen aber müssen häufiger auf Eigenmittel zurückgreifen, um solche Vorhaben zu finanzieren. „Der Erfolg von Digitalisierungsvorhaben ist im Voraus oftmals unsicher“, erläutert KfW-Volkswirt Dr. Volker Zimmermann. Auch bieten Digitalisierungsprojekte oft nicht die Grundlage, die Banken als Sicherheit akzeptieren.


 Deshalb stehen gerade die Mittelständler vor einem großen Dilemma. Veränderte Märkte, veränderte Arbeitsbedingungen und sinkende Liquidität: Wem unter diesen Bedingungen mehr Industrie 4.0 gelingt, der hat wirklich unternehmerisches Gespür bewiesen und ist bereit für die Zukunft.

 

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