Herr Kreß, auf dem Weg zum digitalen Transport haben Sie sich zunächst auf die Wartung der Züge konzentriert. Warum?
Uns geht es langfristig darum, den Transport digital und robust aufzustellen, sodass er sich bei externen Schocks möglichst selbst rekonfiguriert. Der erste Schritt dahin ist die Verfügbarkeit der Fahrzeuge. Wenn Sie nicht wissen, in welchem Zustand Ihre Fahrzeuge sind, wissen Sie auch nicht, wann eines davon ausfällt. Für die Optimierung der Betriebssteuerung – der eigentliche Produktionsprozess im Schienenverkehr – ist dieses Wissen jedoch eine Grundvoraussetzung.
Wie zuverlässig ist diese ‚predictive Maintenance’ heute?
Wir sind heute sowohl in der Risikoerkennung als auch in der Maintenance schon sehr weit, haben fertige Lösungen und Tools, die wir unseren Kunden anbieten können. Beim Thema Betriebssteuerung, also zum Beispiel der Digitalisierung der Disposition, arbeiten wir hingegen gemeinsam mit Kunden an ersten vielversprechenden Projekten, die uns neue Daten und damit auch neue Möglichkeiten bieten.
Was meinen Sie mit neuen Daten und neuen Möglichkeiten?
Die Digitalisierung der Betriebssteuerung ist insbesondere bei großen Flotten und langen Strecken eine Herausforderung, denn dort sind die Abhängigkeiten deutlich höher. Je mehr Projekte wir also für unsere Kunden umsetzen, desto mehr Daten können wir generieren und analysieren – vor allem, da wir weltweit an Projekten arbeiten, bei denen die Länge der Strecken und Züge ebenso variieren wie die klimatischen Bedingungen oder die Auslastung. Kurz: Mit jeder neuen Herausforderung gewinnen wir neue Daten und Erkenntnisse, die wir für andere Projekte aber auch die predictive Maintenance nutzen können.
Die Digitalisierung des Transports ist also ein Lernprozess.
Absolut. Und das ist typisch für die Industrie 4.0. Denn wie Sie eingangs richtig sagten, haben wir uns zunächst auf die Wartung konzentriert, um dann gemeinsam mit den Kunden festzustellen, dass dies nur der erste Schritt ist. Wir befinden uns in keinem starren Prozess, es ist vielmehr eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Konzepten, Ideen und Produkten. Und genau das ist es, was unsere Arbeit so spannend macht.
Für die kontinuierliche Weiterentwicklung setzen Sie auch auf Kooperation.
Das ist richtig. Ein interessantes Beispiel sind sicherlich unsere Aktivitäten in Russland, wo wir nicht nur ein Zentrum für Datenanalyse betreiben, sondern in einem Joint Venture auch schwere Lokomotiven herstellen. Dort gibt es viele Fragestellungen zu Diesellokomotiven, die uns helfen, die Daten so einer Technologieplattform besser zu verstehen. In Russland eröffnet sich für uns also eine ganz neue Datenquelle, aus der wir wiederum auch für andere globale Projekte lernen können.
Unterscheidet sich der russische Schienenverkehr vom deutschen?
Rund um Moskau gibt es ein dichtes Netz an Regionalzügen und S-Bahnen, wo derzeit rund 40 Züge parallel fahren. Das ist derzeit eines der Prestigeobjekte der Russischen Eisenbahnen und liegt entwicklungstechnisch deutlich vor anderen Bahnen. Denn bereits 2018 sollen die Züge hier autonom fahren und später sogar ganz ohne Fahrer auskommen. Das ist natürlich insofern eine große Herausforderung, als dass es keine Überraschungen geben darf, wenn irgendwann einmal kein Fahrer mehr an Bord ist. Hier müssen wir die Interaktionen noch besser verstehen und daran arbeiten wir gerade mit unserem Joint Venture in unserem russischen Zentrum für Datenanalyse.
Zudem bauen Sie gerade ein US-Team mit Sitz in Atlanta auf. Mit welcher Idee?
Die USA sind ein spannender Markt für uns, weil wir hier Zugang zu einer ganz anderen Nutzungsart im Schienenverkehr bekommen. In Europa sind sowohl die Personen- als auch die Güterzüge relativ kurz und fahren auf überschaubaren Strecken. In den USA werden Waren durch die sogenannten Class I Railroads befördert. Dort fahren sehr lange, sehr langsame Züge. Und auch die Art und Weise, wie gefahren wird, unterscheidet sich von der europäischen. Lokführer werden auf maximal zwei bis drei Strecken geschult, auf denen sie dann jeden Abschnitt genaustens kennen. Zudem spielt die predictive Maintenance keine so große Rolle wie hierzulande. Denn die Züge haben mehrere Loks vorn und hinten, da kann eine davon eher auch mal ausfallen.
Welche Fragen müssen bei dieser Art der Nutzung stattdessen adressiert werden?
Hier ist es vor allem die Prozessoptimierung, die interessant ist. Wo fahren meine Fahrzeuge, wo stehen sie, welche Muster gibt es und wie kann ich beispielsweise die Geschwindigkeit erhöhen? Im Prinzip geht es darum, meine Assets zu managen und zu verstehen, wie viel Geld sie für mich verdienen. Hierfür haben wir Railigent entwickelt, eine Plattform, mit der intelligentes Asset Management möglich wird.
Sie sagen jedoch, dass man mit den generierten Daten noch mehr tun kann.
Davon sind wir überzeugt. Denn genau diese Erfahrung haben wir auch schon in anderen Bereichen machen können, wo wir mit einer ersten Fragestellung in ein Projekt gegangen sind, um dann festzustellen, dass dies nur der erste Schritt ist, dem viele weitere folgen können. Der große Mehrwert von Big Data entsteht erst dann, wenn man verschiedene Daten miteinander kombiniert.
Welche Daten lassen sich miteinander kombinieren?
Denken Sie mit Blick auf die kilometerlangen Frachtzüge in den USA beispielsweise an Bahnübergänge. Hier können Sie gut und gerne 20 bis 30 Minuten an einem Bahnübergang warten, bevor ihn ein Güterzug passiert hat. Das hat beispielsweise Auswirkungen auf lokale Einsatzkräfte wie Feuerwehr, Polizei oder die Ambulanz. Anhand der generierten Daten wissen wir genau, wann ein Zug welchen Bahnübergang passiert und wie lange dieser geschlossen sein wird. Eine Vernetzung mit den örtlichen Einsatzkräften kann so unter Umständen Leben retten.
Gibt es weitere Bereiche, zu denen es Schnittstellen geben kann?
Eine Vernetzung mit den Daten von Logistikern kann unserer Meinung nach viele Synergien haben – etwa mit Blick auf die Beladung. Wir können beispielsweise auch anhand des Gewichts von Zügen den Netto-Ein- und -Ausstieg pro Station berechnen. Das ist relativ unkompliziert im Vergleich zu anderen Messmethoden, kann aber eine hohe Aussagekraft für den Betrieb einer Strecke und die Einsatzplanung der Züge haben.
Das heißt, der volle Umfang dessen, was wir künftig aus Daten ablesen können, ist heute noch gar nicht greifbar?
Nein, ist er nicht. Wir stehen heute relativ am Anfang eines wohl gigantischen Lernprozesses, der viele Möglichkeiten erschließen wird. Allerdings ist die Geschwindigkeit dieses Prozesses ebenfalls sehr beeindruckend, sodass wir wohl auch mit einer sehr schnellen Entwicklung und Vernetzung rechnen können. Mit jedem neuen Projekt, bekommen wir neue Daten, aus denen wir lernen, und von dieser Entwicklung profitieren wiederum bestehende Projekte. Interessant ist in diesem Prozess auch, dass wir dank der Zusammenführung von Fahrzeug- und Maintenance-Daten heute noch bessere Vorhersagen treffen können. Und dies ist noch immer eine wichtige Basis für unsere Arbeit.
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Mehr Daten, mehr Möglichkeiten
Ursprünglich ging es darum, die Wartung der Züge vorhersagbar zu machen. Mittlerweile kann aus Daten jedoch viel mehr abgelesen werden.
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