Verwaiste Leiden

Sie sind selten, aber es sind viele: Mehr als 7.000 Krankheiten zählen zu den so genannten „Seltenen Erkrankungen”
Illustration: Wyn Tiedmers
Mirko Heinemann Redaktion

Sarah, vier Jahre alt,  hat einen Großteil ihres Lebens im Krankenhaus verbracht. Von Geburt an litt das Mädchen an einer sehr seltenen Lungenerkrankung, der pulmonalen Alveolarproteinose. Regelmäßig, zuletzt einmal im Monat, musste sie belastende Lungenspülungen im Krankenhaus über sich ergehen lassen, um richtig atmen zu können. Zusätzlich braucht sie permanent Sauerstoff. Die Prognose: Ohne Therapie würde Sarah in den nächsten zwei Jahren sterben.


Die Krankheitsursache wurde lange nicht gefunden. Die Pulmonale Alveolarproteinose ist eine seltene Lungenerkrankung und gehört damit zu den 7.000 bis 8.000 so genannten „Seltenen Erkrankungen”. Als solche werden in Europa Krankheiten klassifiziert, die höchstens eine Person von 2000 betreffen. Das können Formen von Krebs sein, Erkrankungen des Herzkreislaufsystems oder Stoffwechselerkrankungen. Auch eine Kinderdemenz oder eine Infektionskrankheit wie Tuberkulose oder eine Autoimmunkrankheit wie das Sjögren-Syndrom gehören dazu.


Etwa vier Millionen Deutsche insgesamt leiden an einer dieser seltenen Erkrankungen - also im Durchschnitt sind das pro Diagnose nur 500 Patienten. Medikamente oder anderweitige Unterstützung gibt es für die Betroffenen nur selten – aus einem einfachen Grund: Die Erforschung lohnt sich finanziell nicht. Sie wurden deshalb auch „verwaiste Krankheiten“, Orphan Diseases, genannt. Medikamente gegen seltene Krankheiten werden auch Orphan Drugs genannt.


Etwa 80 Prozent der seltenen Krankheiten sind genetisch bedingt, daher machen sich viele schon bei der Geburt oder im frühen Kindesalter bemerkbar. Bei vielen seltenen Krankheiten können die ersten Symptome schon kurz nach der Geburt oder in früher Kindheit auftreten. Andere entwickeln sich erst im Erwachsenenalter. Viele dieser Krankheiten sind lebensbedrohlich oder führen zu Invalidität. Die meisten verlaufen chronisch: Sie lassen sich nicht heilen, die Patienten sind dauerhaft auf ärztliche Behandlung angewiesen.


Dazu kommt: Ihre Diagnose wird häufig falsch oder erst verspätet gestellt. Wirksame Therapien sind rar. Bis die Patienten einen Mediziner, eine Klinik oder eine Reha-Einrichtung gefunden haben, die sich auf ihre Erkrankung spezialisiert haben, vergeht oft viel Zeit. In der Schule oder im Berufsleben wird Betroffenen nicht selten vorgeworfen, sie seien Simulanten. Ausgrenzung, mangelndes Verständnis der Umgebung und fehlende Kontaktmöglichkeiten zwischen den oft weit voneinander entfernt lebenden Patienten stellen eine psychische Belastung dar und können zu einem Gefühl der Isolation führen. Da die Krankheitsbilder und ihre Folgen nicht in die Schemen von Kranken- und Pflegekassen passen, müssen die Patienten meistens viele Jahre um bestimmte Leistungen kämpfen.


Die seltenen Krankheiten wurden lange Zeit von Ärzten, Politikern und Wissenschaftlern vernachlässigt, so dass bis vor kurzem weder geeignete gesundheitspolitische noch wissenschaftliche Maßnahmen existierten. Für die meisten seltenen Krankheiten gibt es keine effiziente Therapie, gleichwohl können angemessene Pflegemaßnahmen die Lebensqualität verbessern und auch die Lebenserwartung steigern.


Seit 2000 gibt es eine EU-Verordnung über „Arzneimittel für seltene Leiden“, also Medikamente, die nur einer vergleichsweise kleinen Zahl von Patienten zugutekommen und daher ohne ökonomische Anreize von den Medikamentenherstellern nicht entwickelt und produziert werden würden. Mit der Anerkennung eines Medikamentes als Orphan Drug erhält der pharmazeutische Hersteller Vorteile in Form einer Befreiung von Gebühren, einer beschleunigten Bearbeitung des Zulassungsantrages und eines zehnjährigen Marktexklusivrechts.


Durch diese EU-Verordnung wurden seit 2000 etwa 140 zugelassene Orphan Drugs für die Patienten verfügbar. Gegenüber den 7.000 bis 8.000 seltenen Erkrankungen mag diese Zahl klein erscheinen. In vielen Fällen bieten diese Orphan Drugs aber den betroffenen Patienten erstmalig überhaupt eine therapeutische Option und sollen es ihnen ermöglichen, trotz oder auch mit ihrer Erkrankung länger oder zumindest besser zu leben. Erfolgreiche Beispiele dafür sind Medikamente gegen die Muskelerkrankung Morbus Pompe, die Blutkrebsart chronische myeloische Leukämie oder den Lungenhochdruck.


Heute können hunderte seltene Krankheiten durch einen einfachen biologischen Test nachgewiesen werden. Für einige der Krankheiten konnte das Wissen über den natürlichen Krankheitsverlauf durch den Aufbau von Registern erweitert werden. Die Bildung von Netzwerken fördert den Austausch von Wissen und führt zu einer Verbesserung der Forschungseffizienz.  Die Gesamtperspektive hat sich verbessert, da in vielen europäischen Ländern durch veränderte Gesetzgebungen und nationale Anstrengungen neue Grundlagen zur Bekämpfung der seltenen Krankheiten geschaffen wurden.


2010 wurde auf Empfehlung der Europäischen Union ein Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) gegründet, in dem sich Akteure des Gesundheitswesens sowie von Patientenorganisationen zusammenfinden. Das Bündnis erarbeitete bis 2013 einen „Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“ mit dem Ziel, die gesundheitliche Situation Betroffener in Deutschland zu verbessern.


Die Versorgung in spezialisierten Fachzentren ist für Patienten mit seltenen Erkrankungen von großer Bedeutung. Aufgrund der geringen Patientenzahlen pro Krankheit kann eine qualitativ hochwertige Versorgung nur in spezialisierten Einrichtungen und durch besonders qualifiziertes Fachpersonal erfolgen. Die für Qualität im Gesundheitswesen erforderlichen Mindestfallzahlen lassen sich bei seltenen Erkrankungen nur mit spezialisierten Zentren erreichen. Zudem muss die klinische Forschung auch länderübergreifend vernetzt sein.


Ergänzend zur medizinischen Versorgung ist die Selbsthilfe immer mehr zu einer zentralen Säule im Gesundheitssystem ausgebaut worden. Selbsthilfegruppen ergänzen das professionelle Versorgungssystem und bieten den Betroffenen zusätzliche Ressourcen durch Erfahrungsaustausch und gegenseitige Hilfe. Deshalb fördert das Bundesministerium für Gesundheit auch die Selbsthilfeaspekte von seltenen Erkrankungen und unterstützt diese Arbeit von Verbänden und Gruppen in verschiedenen Projekten. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass Selbsthilfegruppen nach der gesetzlichen Regelung zur Selbsthilfeförderung von den Krankenkassen unterstützt werden können.

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