Adipositas, Krebs, Diabetes – diese und andere Volkskrankheiten dürften jedem vertraut sein. Ob der schieren Menge an Erkrankten werden sie in der Regel schnell erkannt und gibt etablierte Therapien. Ganz anders steht es um die sogenannten seltenen Erkrankungen. Sie gelten als die Waisenkinder der Medizin – weltweit bekannt als „orphan diseases“. Als selten gilt eine Krankheit in der EU, wenn nicht mehr als 1 von 2.000 Menschen von ihr betroffen sind. Schätzungen zufolge gibt es sechs- bis zehntausend seltene Erkrankungen. Ihre Ursachen können unter anderem genetischer oder infektiöser Natur sein. Viele seltene Erkrankungen beginnen schon im Kindesalter, manche entwickeln sich erst später. Oftmals sind sie lebensbedrohlich oder chronisch und beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen erheblich. Vor allem aber: Selbst bei Mediziner:innen herrscht oft wenig Wissen um diese Krankheiten. Das führt dazu, dass eine Diagnosestellung oft langwierig ist. Die Betroffenen sind in dieser Zeit häufig mit Unsicherheiten, Fehlbehandlungen und einer erheblichen Belastung konfrontiert – zumal auch oft kaum Therapien verfügbar sind. Fünf seltene Krankheiten mögen im Folgenden stellvertretend beschrieben sein.
AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE (ALS)
ALS ist eine fortschreitende neurologische Erkrankung, bei der die Nervenzellen, die die Muskelbewegungen steuern, absterben. Erste Anzeichen sind Muskelzuckungen, Schwäche in den Gliedmaßen und Sprachprobleme. Mit Fortschreiten der Krankheit verlieren die Betroffenen die Kontrolle über grundlegende Funktionen wie Atmen und Schlucken. Die genauen Ursachen sind nicht vollständig geklärt. Vermutet wird eine Kombination aus genetischen und umweltbedingten Faktoren. Bei etwa 10 Prozent der Fälle liegt eine familiäre Form vor. Laut des Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) gibt es derzeit 8.000 bis 9.000 Erkrankte in Deutschland. Meist erkranken Menschen im Alter zwischen 60 und 80 Jahren. Bei den meisten Betroffenen führt ALS innerhalb weniger Jahre zum Tod. Männer sind etwas häufiger als Frauen von der Krankheit betroffen. Heilbar ist ALS bislang nicht. Medikamente wie Riluzol können den Krankheitsverlauf verlangsamen und unterstützende Maßnahmen wie Physiotherapie helfen, die Lebensqualität zu verbessern.
MUKOVISZIDOSE (ZYSTISCHE FIBROSE)
Diese Erbkrankheit betrifft vor allem die Lunge und das Verdauungssystem. Zäher Schleim verstopft die Atemwege und Organe, was zu chronischem Husten, Infektionen und Verdauungsproblemen führt. Mukoviszidose wird durch Mutationen im sogenannten CFTR-Gen verursacht, das für die Regulierung des Salz- und Wassertransports in Zellen verantwortlich ist. Es gibt keine Heilung, doch die Behandlung hat große Fortschritte gemacht. Kombinationstherapien wie CFTR-Modulatoren können die zugrunde liegende Ursache bei bestimmten Mutationen angehen. Wichtige Bestandteile der Behandlung sind Atemphysiotherapie und Antibiotika. In Deutschland leben laut des Deutschen Mukoviszidose-Registers mehr als 8.000 Menschen mit der Erkrankung.
HÄMOPATHIEN (ERKRANKUNGEN DES BLUTES)
Zu den seltenen Hämopathien gehören Krankheiten wie die Aplastische Anämie oder die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH). Symptome können Müdigkeit, Infektanfälligkeit, Blutungsneigung oder ein erhöhtes Thromboserisiko sein. Hämopathien haben oft eine genetische oder autoimmune Komponente. Bei PNH liegt ein Defekt in den roten Blutkörperchen vor, der sie anfällig für die Zerstörung durch das Immunsystem macht. Behandlungen reichen von Immuntherapien und Bluttransfusionen bis hin zu Stammzelltransplantationen. Neue Medikamente wie Eculizumab bei PNH bieten gezielte Ansätze, um die Symptome zu kontrollieren. Die Verbreitung variiert je nach spezifischer Erkrankung. Bei seltenen Hämopathien wie PNH wird die Betroffenenzahl in Deutschland auf etwa 500 geschätzt. Die Aplastische Anämie betrifft etwa zwei bis sechs Personen pro eine Million jährlich.
PRADER-WILLI-SYNDROM (PWS)
PWS ist eine genetische Erkrankung, die durch unkontrollierten Appetit, Muskelhypotonie (Muskelschwäche) und kognitive und soziale Beeinträchtigungen gekennzeichnet ist. Betroffene neigen zu Fettleibigkeit und anderen Stoffwechselerkrankungen. Die Erkrankung wird durch genetische Anomalien auf dem Chromosom 15 verursacht. Es gibt keine Heilung, aber eine strikte Gewichtskontrolle, Physiotherapie, Hormonbehandlungen und psychosoziale Hilfsangebote können helfen.
MORBUS FABRY
Die Krankheit verursacht unter anderem Schmerzen in Händen und Füßen, Hautveränderungen, Magen-Darm-Probleme und schwerwiegende Organprobleme wie Herz- oder Nierenversagen. Morbus Fabry ist eine Erbkrankheit, bei der ein Enzymdefekt zu einer Ansammlung von Fettsubstanzen in Zellen führt. Enzymersatztherapien und orale Medikamente wie Migalastat können helfen, die Krankheit zu kontrollieren.
GEMEINSAM STARK
Die genannten Zahlen verdeutlichen, wie klein die betroffenen Patientengruppen oft sind. Das macht die Entwicklung neuer Therapien zu einer Herausforderung. Dennoch gibt es Fortschritte: Gen- und Zelltherapien sowie personalisierte Ansätze bieten potenziell übertragbare Ansätze auf viele seltene Krankheiten. Ein Beispiel dafür ist der Einsatz der „Gen-Schere“ CRISPR/Cas, ein molekularbiologisches Verfahren, um einen DNA-Strang an einer vorgegebenen Stelle zu durchschneiden und dort gezielt zu verändern, was bei einigen Erkrankungen wie Mukoviszidose oder bestimmten Hämopathien bereits erforscht wird. Parallel dazu verbessern digitale Diagnose-Tools, gestützt durch künstliche Intelligenz, die frühzeitige Diagnose seltener Erkrankungen.
Seltene Erkrankungen stellen nicht nur Betroffene, sondern auch Angehörige vor große Herausforderungen. Umso wichtiger ist die Arbeit von Selbsthilfegruppen oder die Arbeit von Stiftungen. Sie bringen Betroffene, deren Familien, Medizinpersonal und oft auch Pharmaunternehmen zusammen, helfen bei der Alltagsbewältigung und leisten große Dienste in der Verbreitung von wissenschaftlichen Informationen über die jeweiligen Krankheiten. Zu finden sind sie zu unter anderem über die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG) unter www.nakos.de/adressen/seltene. Denn so selten „orphan diseases“ auch sein mögen – Betroffene sind nicht allein.