Herr Dr. Bug, Sie und Ihre Kollegen arbeiten nach eigener Aussage für eine Zukunft, in der Krankheiten der Vergangenheit angehören. Ist das nicht ungewöhnlich für ein forschendes pharmazeutisches Unternehmen, das – ganz wertfrei – daran verdient, dass Menschen die von Ihnen entwickelten Medikamente benötigen?
Ich bin mir bewusst, dass unsere Vision sehr ambitioniert ist. Wenn wir uns jedoch anschauen, welche Fortschritte die moderne Medizin in den vergangenen Jahren gemacht hat, dann wird deutlich, dass unsere Vision durchaus realistisch ist. Forschung und Medizin entwickeln sich so rasant, dass heute vieles möglich scheint, was vor einigen Jahren als unerreichbar galt. Wir verstehen immer besser, wie Krankheiten entstehen und wie wir sie wirksam behandeln können.
Das scheint Ihnen nicht zu genügen. Sie wollen Krankheiten behandeln, bevor sie ausbrechen.
Selbst, wenn wir immer früher und individueller diagnostizieren und therapieren können, kommen wir – zumindest bei progressiven Erkrankungen – immer noch zu spät. Der Tumor hat sich gebildet, oder, wie im Fall der Alzheimer-Demenz, das Gehirn ist bereits irreversibel geschädigt. Aus der Forschung wissen wir, dass zwischen dem Beginn des Krankheitsprozesses und dem Auftreten erster Symptome teilweise Jahre vergehen können, ohne dass der Betroffene etwas merkt. Das ist bei vielen Krebserkrankungen und z.B. bei der Alzheimer-Demenz der Fall. Wir bei Janssen sehen die realistische Chance, diese Erkrankungen aufzuhalten, bevor die ersten Symptome auftreten. Diesen Ansatz nennen wir Disease Interception.
Wie soll das funktionieren?
Disease Interception sieht vor, mithilfe validierter Biomarker Menschen – zu diesem Zeitpunkt sind sie noch keine Patienten im klassischen Sinne – zu identifizieren, die ein besonders hohes Risiko in sich tragen, eine bestimmte Erkrankung zu entwickeln. Biomarker sind es auch, die anzeigen, dass der Krankheitsprozess begonnen hat. Das Zeitfenster zwischen dem Nachweis des krankmachenden Prozesses und dem Auftreten von Symptomen stünde für die gezielte Intervention zur Verfügung. Dieses Zeitfenster nennen wir „Interception Window“. Das Ziel von Disease Interception ist, ursächlich in den Krankheitsverlauf einzugreifen und ihn noch in der präklinischen Phase zu stoppen, zu verzögern oder sogar umzukehren.
Ist eine Disease Interception heute schon möglich?
Bei Disease Interception handelt es sich um einen völlig neuen medizinischen Ansatz, der – Stand heute – noch Zukunftsmusik ist. Schon heute sind wir jedoch in der Lage, individuelle Veränderungen im menschlichen Körper mit Hilfe bestimmter Biomarker zu einem sehr frühen Zeitpunkt nachzuweisen – zu einem Zeitpunkt, zu dem die Betroffenen im klassischen Sinne noch nicht erkrankt sind, die Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung jedoch hoch ist. Bis die ersten Therapien im Sinne von Disease Interception zugelassen werden, ist jedoch noch intensive Forschung nötig. Wir gehen aber davon aus, dass Disease Interception bereits in wenigen Jahren in ersten Indikationen Realität werden könnte.
In welchen Bereichen forschen Sie?
In der Hämato-Onkologie suchen wir nach Ansätzen, um den Übergang von einer schwelenden Knochenmarkserkrankung, dem sogenannten Smoldering Myelom, zum behandlungsbedürftigen Multiplen Myelom zu verhindern. In der Alzheimer-Forschung arbeiten wir daran, die Biomarker besser zu verstehen, um das dementielle Syndrom mit neuen Therapieoptionen hinauszuzögern. Und bei Typ 1 Diabetes wollen wir möglichst früh Hinweise auf eine Krankheitsentwicklung finden, um beispielsweise durch eine Immuntherapie zu intervenieren.
Noch können Patienten nicht von Disease Interception profitieren, weil es noch keine entsprechenden Therapien gibt. Warum reden wir dann heute darüber – und nicht dann, wenn es soweit ist?
Wir reden heute schon darüber, weil wir wollen, dass Betroffene von Disease Interception profitieren können, sobald die ersten Therapien auf den Markt kommen. Würde in naher Zukunft die erste Therapie im Sinne von Disease Interception zugelassen, wären weder unser Gesundheitssystem darauf vorbereitet noch wir als Gesellschaft.
Wie kommen Sie darauf?
Wenn Disease Interception Wirklichkeit wird, wäre damit ein Paradigmenwechsel für Betroffene, ihre Angehörigen, Ärzte, unser Gesundheitssystem, für uns als Gesellschaft insgesamt verbunden. Der Ansatz wirft viele Fragen auf, darunter medizinische, ökonomische, ethische Fragen – und er verändert Rollen und Verantwortlichkeiten. Ärzte würden künftig deutlich stärker individuelle Erkrankungsrisiken prognostizieren, mithilfe von Biomarkern Erkrankungsprozesse erkennen und gegen sie intervenieren, statt wie heute manifeste Erkrankungen zu diagnostizieren und eine Behandlung einzuleiten. Ihre Rolle wandelt sich also vom Behandler zum Berater ihrer Patienten. Wir alle als potenzielle Betroffene müssten mehr Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen und entscheiden: Ab welchem Erkrankungsrisiko will ich informiert werden? Wir müssen verbindlich regeln, wie wir künftig mit dem individuellen Recht auf Nichtwissen umgehen, wie wir es schützen. Wie sollen Ärzte und Krankenkassen beispielsweise damit umgehen, wenn ein Versicherter von seinem Recht auf Nichtwissen Gebrauch macht und später erkrankt? Was sollen und dürfen die Arbeitgeber über das Erkrankungsrisiko ihrer Mitarbeiter wissen? Um diese Fragen zu beantworten, ist eine gesamtgesellschaftliche Debatte erforderlich. Diese treiben wir als Janssen seit einigen Jahren voran, denn wir wollen, dass das System bereit ist, wenn die ersten Therapien im Sinne von Disease Interception zugelassen werden. Deshalb sprechen wir schon heute darüber, welche Chancen Disease Interception für Betroffene bietet, und welche Hürden wir als Gesellschaft bewältigen müssen, damit aus diesem Ansatz Wirklichkeit werden kann.
DISEASE INTERCEPTION AUF DEM PRÜFSTAND
Im aktuellen, von Janssen unterstützten Buch „Disease Interception – Implikationen einer frühen Diagnose und Krankheitsunterbrechung für Medizin und Gesellschaft“ kommen zahlreiche Experten zu Wort, die das Konzept kritisch beleuchten und diskutieren. Lesenswert für alle, die sich für die Zukunft der Medizin interessieren.