Schnelle Diagnose, zielgenaue Therapie

Vielfältige und uneindeutige Symptome der seltenen Erkrankungen stellen auch Spezialisten oft vor Rätsel. Künstliche Intelligenz kann den Weg zur richtigen Behandlung erleichtern.
Illustration: Lara Paulussen
Illustration: Lara Paulussen
Andrea Hessler Redaktion

Die 19-jährige Lisa hat in ihrem jungen Leben schon viel gelitten. Trotzdem lächelt sie, wenn sie anderen Menschen, etwa auf Youtube, ihre Geschichte erzählt. Von den vielen Ärzten, die sie untersuchten, der künstlichen Ernährung mittels Sonde, der Punktierung der Bauchspeicheldrüse. Nach Jahren erst wurde die richtige Diagnose gestellt: Lisa leidet unter dem Ehlers-Danlos-Syndrom, einer von rund 6.000 seltenen Erkrankungen. Kennzeichen sind eine angeborene Schwäche des Bindegewebes mit einer übernatürlichen Dehnbarkeit der Haut und der Gelenke, aber auch Gefäße und innere Organe sind beeinträchtigt.

Zehn Jahre bis zur Diagnose

Wie Lisa geht es vielen Betroffenen. Es dauert manchmal zehn Jahre, bis die Patienten endlich eine zutreffende Diagnose erhalten, ein langer und schmerzhafter Weg. Doch der könnte künftig deutlich kürzer ausfallen. Diagnosen können schneller und sicherer erfolgen mittels gesammelter Daten und deren Abgleich mit Werkzeugen der Künstlichen Intelligenz (KI). Mediziner Martin Hirsch, Neurowissenschaftler und einer der international führenden Experten im Bereich KI, ist Inhaber der Professur für Künstliche Intelligenz in der Medizin an der Philipps-Universität Marburg. Er sieht viele Möglichkeiten für den Einsatz von KI zum Wohle des medizinischen Fortschritts und von Patienten. „Künstliche Intelligenz wird die Gesundheitsversorgung grundlegend verändern, indem sie Erkrankte bereits zuhause ohne Zeitdruck mit viel Hintergrundwissen personalisiert berät und danach in Praxen und Kliniken Ärzte bei Diagnose und Therapie aktiv unterstützt.“

Inzwischen gibt es auch bei seltenen Erkrankungen verschiedene Beispiele für den Einsatz von KI. So hat etwa die CompuGroup Medical mit ihrem Tochterunternehmen intermedix, einem der führenden, weltweit tätigen E-Health-Unternehmen, gemeinsam mit ihrem Partner Gotthardt Health Group (CGH) ein Modul zum Erkennen von seltenen Erkrankungen entwickelt. Das Modul mit der Bezeichnung WICOM Rare Disease identifiziert automatisch Anzeichen für seltene Erkrankungen. Es verwendet aggregierte und anonymisierte Daten, die weltweit erhoben und ständig aktualisiert werden. Ärztinnen und Ärzte erhalten während des Arzt-Patienten-Kontakts im Arztinformationssystem (AIS) automatisch digitalisierte Hinweise, ob es sich bei den Beschwerden um eine bisher nicht diagnostizierte seltene Erkrankung handeln könnte. Das System gleicht hierzu im Hintergrund strukturierte Daten der elektronischen Patientenakte mit Diagnose- und Symptomkonstellationen verschiedener seltener Erkrankungen ab und informiert den Arzt über mögliche Auffälligkeiten, gibt Handlungsempfehlungen und Therapie-Optionen. „Wir kombinieren unsere eigens ermittelten Algorithmen, die auf medizinischem Fachwissen, technischem Know-how, Mess- und Lernbarkeit beruhen, mit dem großen Ärztenetzwerk der CGM und jahrelanger Erfahrung in der Healthcare IT seitens intermedix“, sagt Prof. Dr. Gotthardt, Gründer und CEO der Gotthardt
Healthgroup AG.

Auch Arzneimittelunternehmen profitieren von diesem Modul. Sie bekommen die Chance, Mediziner im entscheidenden Moment mit wertvollen Informationen zu Therapiemöglichkeiten zu unterstützen. Christian Senger, Area Vice President intermedix, sagt: „Unser Anspruch ist es, Ärzten einerseits und unseren Kunden andererseits mithilfe unserer intelligenten Lösungen möglichst große Mehrwerte liefern zu können. So leisten wir nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag für eine gesunde Gesellschaft.“

»Wir können nun bestenfalls mit nur zwei Patienten als Grundlage eine relativ sichere Diagnose stellen.« – Peter Krawitz, Universitätsklinikum Bonn

Einen visuellen Ansatz zum Erkennen von seltenen Erkrankungen verfolgen Forschende der Universität Bonn in Zusammenarbeit mit der Charité-Universitätsmedizin Berlin und weiteren Unis im In- und Ausland. Sie haben die Software „GestaltMatcher“ entwickelt, die genetische Erkrankungen am Gesicht erkennt, etwa weil Brauen, Nase oder Wangen charakteristisch geformt sind. Anhand von Portraitfotos kann „GestaltMatcher“ mittels KI Ähnlichkeiten erkennen und verknüpft sie automatisch mit klinischen Symptomen und Erbgutdaten von Patientinnen und Patienten. Der bahnbrechende Fortschritt im Vergleich zu früheren Systemen: Das neue KI-System berücksichtigt auch Ähnlichkeiten mit Patientinnen und Patienten, bei denen ebenfalls bisher keine Diagnose gestellt wurde, und damit bislang noch nicht beschriebene Merkmalskombinationen. GestaltMatcher erkennt also auch ihm bislang unbekannte Erkrankungen und schlägt darauf basierend Diagnosen vor. „Damit können wir nun auch bislang unbekannte Erkrankungen einordnen, auf die Suche nach weiteren Fällen gehen und Hinweise für die molekularen Grundlagen liefern“, sagt Professor Peter Krawitz vom Institut für Genomische Statistik und Bioinformatik (IGSB) am Universitätsklinikum Bonn.

KI lernt mit der Zeit dazu

Das Team nutzte 17.560 Patientenfotos, die überwiegend von dem digitalen Gesundheits-Unternehmen FDNA stammen, mit dem das Forschungsteam zusammenarbeitete und das den Web-Service entwickelte, über den die KI genutzt werden kann. Insgesamt wurden 1.115 verschiedene seltene Erkrankungen berücksichtigt. „Diese große Unterschiedlichkeit im Erscheinungsbild trainierte die KI so gut, dass wir nun auch bestenfalls mit nur zwei Patienten als Grundlage eine relativ sichere Diagnose stellen können, wenn dies möglich ist“, sagt Krawitz.

Peter Krawitz und sein Team haben die selbst gesammelten Daten der gemeinnützigen Arbeitsgemeinschaft für Gendiagnostik, AGD e.V., übergeben, um Wissenschaftlern einen nicht gewinnorientierten Zugang zu ermöglichen. „Die GestaltMatcher Datenbank (GMDB) wird die Vergleichbarkeit von Algorithmen verbessern und die Grundlage zur Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz für seltene Erkrankungen schaffen – auch für andere medizinische Bilddaten wie etwa Röntgenaufnahmen oder Netzhautaufnahmen aus der Augenheilkunde“, sagt Krawitz.

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