Frau Dr. Neuhann, welche Rolle spielt die Humangenetik im Zusammenhang mit seltenen Krankheiten?
Eine sehr große, da die Mehrzahl der seltenen Erkrankungen tatsächlich auch genetisch bedingt sind. Deshalb ist die Humangenetik eine der ersten Anlaufstellen für Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen. Es gehört für uns zum Alltag, dass wir uns auf die Suche machen nach Krankheitsbildern, die vielleicht erst zehnmal in der Literatur beschrieben wurden – oder noch nie.
Was tun Sie am MGZ genau für Ihre Patientinnen und Patienten?
Als Fachärzte für Humangenetik sind wir aktiv an der ambulanten Patientenversorgung beteiligt. Die Patientinnen und Patienten werden in der Regel von ihren Hausärzten oder von Kollegen anderer Fachrichtungen zugewiesen, bei denen der Verdacht auf eine genetisch bedingte seltene Erkrankung besteht. Wir versuchen zunächst, die Symptomatik einzuordnen, auch im Kontext der persönlichen und der Familienanamnese. Entscheidender Schritt ist dann eine gezielte Untersuchung des Genoms der Betroffenen, um eine Diagnose stellen zu können. Um sichere Diagnosen aus genetischen Analysen ableiten zu können, arbeiten in der Humangenetik die Ärzte Hand in Hand mit Fachhumangenetikern und Bioinformatikern.
Damit ist es aber noch nicht vorbei. Wir verstehen uns sozusagen als die Hausärzte für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Sie brauchen häufig eine interdisziplinäre Betreuung. Nehmen Sie das Beispiel der Neurofibromatose Typ 1. Betroffene brauchen eine augenärztliche Anbindung, sie brauchen eine neurologische Versorgung, sie brauchen regelmäßig ein MRT. Sie brauchen aber auch eine gute hautärztliche Versorgung und Spezialuntersuchungen, um nach Tumoren zu suchen. Unsere Aufgabe ist es, die Patientinnen und Patienten zu informieren, zu koordinieren, Empfehlungen zu geben und die Betroffenen im Therapieverlauf regelmäßig zu untersuchen. Hinzu kommt: Bei seltenen, genetisch bedingten Erkrankungen ergeben sich oft Konsequenzen für die weitere Familie. Da geht es um die Familienplanung, um die Frage, ob eine Krankheit vielleicht weitergegeben wird – auch hier sind wir beratend und betreuend tätig.
Welche Rolle spielt die Humangenetik in der Zukunft bei der Diagnose und Therapie von seltenen Erkrankungen?
Am Anfang steht immer die Diagnose. Und die Diagnostikmöglichkeiten haben gerade bei den genetisch bedingten Krankheiten massiv zugenommen. Wir können das menschliche Genom immer besser aufschlüsseln und stellen immer mehr Diagnosen. Für Menschen mit einer genetisch bedingten seltenen Krankheit ist es enorm wichtig, eine Diagnose zu bekommen: Nur, was diagnostiziert ist, können wir auch behandeln, und sei es in der Zukunft. Früher bekamen wir oft zu hören, eine genetische Diagnose habe an sich ja keine Therapiekonsequenz. Das ist in in der heutigen Zeit so nicht mehr korrekt, in den vergangenen 20 Jahren hat sich bei der Behandlung seltener Krankheiten unheimlich viel getan. Große Bedeutung haben natürlich auch die Therapiestudien, die nur durchgeführt werden können, wenn genug Teilnehmende zur Verfügung stehen. Daher ist auch die Etablierung von Patientenregistern so relevant, zum Beispiel, um Betroffene mit seltenen Erkankungen erreichen zu können, um den Erfolg neuer Therapien einschätzen und verbreiten zu können. Auch diese Art der Begleitung sehen wir als unsere Aufgabe als Humangenetiker: eben als Hausärzte, die Menschen mit seltenen Erkrankungen begleiten.