Der Idee auf der Spur

Vertrauen der Geschäftsleitung in die Mitarbeiter und umgekehrt – das ist offenbar eine zentrale Voraussetzung für innovatives Denken in den Unter- nehmen. Andere Faktoren: Vielfalt, Mut und ein guter Standort.
Illustration: Malcolm Fisher
Illustration: Malcolm Fisher
J.W. Heidtmann Redaktion

Vor einem Jahr stand die mitteldeutsche Stadt Leipzig in den Schlagzeilen – damals nicht wegen linksradikaler Krawalle, sondern wegen der Eröffnung der milliardenschweren Agentur für Sprunginnovationen (SprinD). Leipzig hatte sich gegen 15 andere Standorte durchgesetzt, in der Schlussrunde gegen Potsdam und Karlsruhe. Oberbürgermeister Burkhard Jung gab sich bei der Eröffnung euphorisch, aber auch selbstbewusst: „Von der Produktion zur Innovation – wir haben in Leipzig den Sprung geschafft, nicht nur Standort für Spitzentechnik, sondern künftig auch Motor für die Zukunftsthemen unserer Wirtschaft zu sein.”  


Die neue Bundesagentur soll so genannte „Sprunginnovationen” finden und bei ihrem Weg in die freie Wirtschaft unterstützen, also „Innovationen, Produkte, Dienstleistungen und Systeme, die unser aller Leben spürbar und nachhaltig besser machen”, so die Selbstbeschreibung. Der Chef der Agentur, Rafael Laguna de la Vera, erklärte den VDI-Nachrichten, eine „Sprunginnovation” habe Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft.
 

Was sind Sprunginnovationen?
 

So wie das Auto, denn damit seien neue Industriezweige entstanden und eine neue Kultur des Individualtourismus. Andere „Sprunginnovationen”: das Internet. Das Smartphone. „In einem kleinen Gerät tragen wir heute das Wissen der Welt mit uns herum.”

Rafael Laguna de la Vera ist selbst gebürtiger Leipziger, wuchs aber in Westdeutschland auf. Mitte der 1970er Jahre siedelte die Familie in die Bundesrepublik um – das war möglich, da sein Vater Spanier ist. Mit 16 Jahren gründete er sein erstes Software-Unternehmen, mit 21 sein zweites. Mit 31 verkaufte er seine erste Firma. Er war Technologie-Investor, Interims-Manager und Berater für Venture Capital Fonds. Heute ist Laguna CEO der Open-Xchange AG, die er 2005 mitgründete. Das Unternehmen bezeichnet sich als führender Anbieter von Open Source-Software für E-Mail und Office-Productivity. Laguna selbst sieht sich als leidenschaftlicher Wissenschaftler und Musiker, Unternehmer und Venture-Capitalist.

Ein Jahr später sind fünf Mitarbeiter bereits fest in Leipzig tätig. Mittelfristig soll das Personal in der Zentrale der Agentur auf 35 bis 50 Personen wachsen. Die Agentur ist dabei, erste Bewerbungen zu sichten. „Wir haben auf unseren Aufruf von vor zwei Monaten bereits 270 Projekteinreichungen erhalten”, so Agentursprecher Christian Egle. „Es sind viele gute Vorschläge darunter, aber natürlich sind auch viele unausgegorene bis völlig abstruse Ideen dabei. Wir sind dabei zu sichten und die Spreu vom Weizen zu trennen.” Das Problem mit den öffentlichen Aufrufen sei ihre Breite. Das mache es schwierig, innovative Ideen mit Potenzial auszusieben.

Potenziale sieht Agenturchef Laguna in der Künstlichen Intelligenz, also in der Analyse riesiger Datenmengen, sagte er den VDI-Nachrichten. „Wir sind Inkubator und stellen zugleich sicher, dass die Innovation so weit entwickelt wurde, dass wir ihre Marktfähigkeit sicherstellen. Ziel: Der volkswirtschaftliche Nutzen soll in Deutschland und in Europa bleiben. Man müsse „aufpassen, dass unsere Rohdiamanten nicht von Amerikanern oder Chinesen weggekauft werden.”

Unsere „Rohdiamanten”, damit sind innovative Unternehmen und Ideen gemeint, die von Start-ups oder Forschern entwickelt werden – der Treibstoff der deutschen Wirtschaft. Aber dieser sei in Gefahr allmählich auszugehen, befindet Armando Garcia Schmidt, Wirtschaftsexperte und Studienleiter der Bertelsmann Stiftung. „Deutsche Unternehmen bewegen sich zu häufig auf ausgetretenen Pfaden.” Eine repräsentantive Befragung von Unternehmen aus den Bereichen Industrie und industrienahen Dienstleistungen, erstellt von IW Consult, habe ergeben: „Einer relativ kleinen Speerspitze von innovativen Unternehmen steht hierzulande eine Mehrzahl von innovationsfernen Firmen gegenüber.” Nur rund ein Viertel der deutschen Unternehmen zeichne sich durch Innovationsfreude und Technologieführerschaft aus.

Ergebnis: In rund der Hälfte der hiesigen Unternehmen werden Innovationen nicht aktiv vorangetrieben. Hier fehlten vor allem Risikobereitschaft und eine Innovationskultur, die Mitarbeiter ermutigt, neue Wege zu gehen. „Zu viele Unternehmen stolpern in die Zukunft, anstatt mit einer offenen Innovationskultur voranzugehen”, so Garcia Schmidt.

Grundsätzlich gelte: Je innovativer ein Unternehmen, desto größer ist der wirtschaftliche Erfolg und desto dynamischer wachsen die Mitarbeiterzahlen. So fällt die Nettoumsatzrendite, die angibt, wie hoch der Anteil des Gewinns am Umsatz ist, bei den innovativsten Unternehmen, den so genannten „Disruptiven Innovatoren”, um 33 Prozent höher aus als im Durchschnitt aller Milieus. Aber diese Unternehmen sind hauptsächlich in der Medienbranche sowie unternehmensnahen Dienstleistungen beheimatet. Außerdem sind die Unternehmen aus dieser Gruppe überdurchschnittlich jung: Knapp ein Viertel wurde erst in den vergangenen zehn Jahren gegründet. Problematisch seien die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Denn gerade hier fehle es häufig an einer ausgeprägten Innovationskultur. „Unsere Studie zeigt, dass gerade kleine und mittelständische Unternehmen gezielt in ihre Innovationsfähigkeit und die digitale Transformation investieren müssen”, so Garcia Schmidt.

Aber wie können Unternehmen innovativer werden? Welche Rolle spielt die Unternehmenskultur, spielen die Führung, der Standort der Arbeitsorganisation? Fallen Neuheiten den Genies im stillen Kämmerlein ein? Kann man sie im Team entwickeln? Fakt ist: Einen Königsweg zur Innovation gibt es nicht. Viele Ideen und Innovationen in Unternehmen entstehen zufällig und während der täglichen Arbeit. Nur: Wenn es keine Möglichkeit gibt, Ideen transparent zu machen und systematisch zu selektieren, werden wertvolle Potenziale verschenkt. Das sagen die Innovationsmanager von „Table of Visions”, einem Anbieter von softwarebasierten Innovationsmanagement-Lösungen, mit denen kreative Mitarbeiter-Ideen im Unternehmen gebündelt und aufbereitet werden können. Sie sehen den Schlüssel zu einer erfolgreichen Ideen- und Innovationskultur im Vertrauen. „Wenn unter den Mitarbeitern kein Vertrauen herrscht, sie kein Vertrauen zu ihrem Vorgesetzten und Arbeitgeber haben, dann werden sie auch keine Ideen äußern, sondern Arbeit nach Vorschrift verrichten. Ist jedoch eine starke Verbundenheit gegeben, das Unternehmen darauf bedacht, die eigenen Mitarbeiter mitzunehmen und Persönlichkeiten zu fördern, die Dinge anstoßen und bewegen möchten, wird der Mitarbeiter selbst eine intrinsische Motivation entwickeln und mutige Entscheidungen treffen.”

Umgekehrt verhalte sich das genauso. Die Führungskraft und das Unternehmen müssen ihren Mitarbeitern soweit vertrauen, dass die gewährte Freiheit und Selbstbestimmtheit – um sich kreativ entfalten zu können – nicht ausgenutzt wird. Innovation ist also eine Frage der inneren Haltung, die sich im Führungsstil der Vorgesetzten widerspiegeln soll: So spielt in die Unternehmenskultur auch eine Leadership-Kultur eine wichtige Rolle. „Leadership schafft Kreativität, Innovation, Sinnerfüllung und Wandel. Und so den nötigen Freiraum für Mitarbeiter, ihre Ideen und innovativen Projekte zu entwickeln, zu äußern und umzusetzen.”

Dazu gehört auch ein Umfeld, das Raum zum Atmen lässt. Abgeschiedene Plätze, wo man sich in freiem Denken üben kann, der sprichwörtliche Kicker oder das Sofa, kreative Zonen, viele kleine Schaffenspausen neben der täglichen Arbeit, um an innovativen Projekten zu arbeiten. Oder Workshops außerhalb der gewohnten Räumlichkeiten. Die schaffen laut Table of Visions „neue Perspektiven und regen zum Denken an.”

Auch Vielfalt in den Teams befördert neues Denken. Wo „Diversity” gelebt wird, also internationale Mitarbeiter aus verschiedenen sozialen Schichten, verschiedenen Alters und Geschlechts, dort ist auch der Output vielfältig und innovativ. Der Grund: „Je mehr Perspektiven, Meinungen und Hintergründe aufeinander treffen, desto mehr Reibung und somit auch bestenfalls innovative Ideen entstehen.” Die Herausforderung liegt dabei in der Unternehmenskultur und Orchestrierung von Teams. Führungskräfte müssen lernen, diese Teams agil zu steuern, ohne dabei den Blick nach vorne zu verlieren. Technologie kann helfen, Teams kollaborativ, agil und digital zu steuern und gleichzeitig die nötige Transparenz zu schaffen.

Neben flachen Hierarchien und vielen Freiräumen gehöre dazu auch eine gesunde Fehlerkultur. Denn Fehler passieren – auch im Job. Aber haben Mitarbeiter Angst, durch einen Fehler womöglich ihren Job zu verlieren, werden sie ihre Fehler vertuschen. Wird ein offenes, sanktionsfreies Prinzip von Management und Geschäftsführung vorgelegt, werden Mitarbeiter auch das nötige Vertrauen haben, mutiger zu werden und mehr auszuprobieren.

Inwiefern der Standort in Sachen Innovationsagentur eine Rolle spielt, liegt auf der Hand. Wo Cluster entstehen, wo sich also viele branchenähnliche oder ergänzende Unternehmen ansiedeln, wo es Hochschulen gibt und eine inspirierende Kulturlandschaft, dort sind auch kreative Köpfe eher zu finden als anderswo. Umgekehrt lassen sich auf diese Weise Effekte erzielen, die auch auf den Standort ausstrahlen. Davon erhofft man sich viel. Es ist ein wenig wie bei einer Dominobahn: Man muss erst einmal mühsam viele Steine aufstellen, bevor es losgehen kann. Oder, um, es mit einer banalen Volksweisheit zu sagen: Von nichts kommt nichts.

So auch bei der Eröffnung der Innovatinsagentur SprinD in Leipzig, der viele Aufbaujahre vorausgingen: „Die Ansiedlung der Agentur zeigt, dass Leipzig im Vergleich zu anderen Standorten wettbewerbsfähig ist und durch seine vielen Standortvorteile punkten kann“, sagte Leipzigs Wirtschaftsbürgermeister Uwe Albrecht. „Die Agentur wird Leipzig auf seinem Weg ins digitale Zeitalter und der Innovation nachhaltig Schub verleihen.” Das funktionierte nicht ohne überzeugende Rahmenbedingungen. Man habe sich bewusst für einen Standort in einem ostdeutschen Bundesland entschieden, sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier zur Eröffnung. „Aber ohne Abstriche bei den anderen Kriterien: Urbanität, unternehmerische Innovationskraft, Wissenschaftsorientierung und ausgezeichnete Verkehrsanbindungen.”

Jetzt kann es also losgehen in Leipzig. Nach SprinD folgt bald auch die zweite große Ansiedlung des Bundes in der Messestadt: Bis 2022 kommt die neue Bundesbehörde für Innovation in der Cybersicherheit nach Leipzig. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist es auch höchste Zeit dafür.

 

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