Starke Worte

Beinahe jedes Unternehmen hat ein Leitbild. Es hängt in Büros aus, steht prominent auf der Website und ist Grundlage für Personalgespräche. Wozu dient es und wie wird es mit Leben gefüllt?

Illustration: Rosa Viktoria Ahlers
Illustration: Rosa Viktoria Ahlers
Sarah Kröger Redaktion

Unsere Mission ist es, jede Person und jedes Unternehmen auf dem Planeten zu befähigen, mehr zu erreichen.“ So lautet das Unternehmensleitbild von Microsoft. Bei Google heißt es: „Unsere Mission: Die Informationen dieser Welt organisieren und allgemein zugänglich und nutzbar machen.“ Diese Slogans beschreiben kurz und einprägsam, wofür die Organisation steht und sind der Beginn einer ausführlicheren Beschreibung der Unternehmenswerte. Ein Unternehmensleitbild umfasst die grundlegenden Werte, Ziele und die Mission einer Organisation. Dabei ist es gleichzeitig nach innen und außen gerichtet: Es dient als Orientierungshilfe für Mitarbeitende und Führungskräfte und beeinflusst die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Doch in erster Linie werden Leitbilder nicht für die Außenwahrnehmung, sondern für das Unternehmen selbst entwickelt. 

„Leitbilder beziehen sich weniger auf die ‚harten Zahlen‘ wie Umsatz oder Marktanteile, sondern darauf, wie wir das als Organisation erreichen wollen“, erklärt Annette Kluge, Professorin für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Ruhruniversität Bochum. Das „Wie“ könnten zum Beispiel ethische Führung, innovative Arbeitsweisen, Agilität, Förderung von (weiblichen) Talenten oder Nachhaltigkeitsinitiativen sein.
 

LEITBILDER GEBEN SICHERHEIT


Doch wozu dienen Leitbilder? Welchen Zweck haben diese mehrseitigen Dokumente, und wer liest sich diese Absätze überhaupt durch? Leitbilder seien wichtige Voraussetzungen für die Orientierung und würden gerade in unsicheren Zeiten den Mitarbeitenden Sicherheit geben, meint Annette Kluge. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz zum Beispiel würde bei manchen Ängste hervorrufen. Sie befürchten vielleicht, dass ihr Arbeitsplatz bald durch diese neue Technologie ersetzt wird. Dann sei ein Leitbild ein guter Kompass, der klar für eine bestimmte Haltung stünde – zum Beispiel für transparente Kommunikation im Unternehmen. Es helfe, das Vertrauen in das Management zu stärken. Auch die Bindung von guten Mitarbeitenden an das Unternehmen sei eine wichtige Funktion, besonders in Zeiten des Fachkräftemangels. 

Ivana Walden von der Agentur Keen Communication betont, dass Unternehmen mit klaren Wertvorstellungen besonders erfolgreich sind, weil sie „kein Fähnchen im Wind“ seien. „Das ist es, was sie in dieser Welt voller austauschbarer und vergleichbarer Produkte und Dienstleistungen von der Konkurrenz unterscheidet“, schreibt sie im Online-Magazin Zielbar. 
 

WERTE MÜSSEN AUCH GELEBT WERDEN


Ein Unternehmensleitbild ist allerdings nur dann hilfreich, wenn es auch mit Leben gefüllt wird. Inspirierende Slogans auf Postern, die aber nicht in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, sind allerhöchstens noch für die Marketingabteilung interessant. Im schlimmsten Falle sorgen sie sogar für Zynismus unter den Mitarbeitenden, die sich das neue Leitbild anschauen und die Augen verdrehen, weil „die da oben“ sich schon wieder etwas Neues ausgedacht haben. 

Die Werte, die im Leitbild genannt werden, müssen auch im Unternehmen gelebt werden. Wie das aussehen kann, beschreibt Annette Kluge: „Die Mitarbeitenden gucken erstmal in Richtung Führungskraft, ob die sich auch so verhält.“ Führungsprozesse seien ein wichtiger Hebel, um die entwickelten Werte auch umzusetzen. Das ließe sich zum Beispiel oft bei den Werten Sicherheit versus Produktivität sehen. „Wenn das Unternehmen betont, dass es Arbeitsunfälle vermeiden will, doch die Führungskraft fragt immer nur: ‚Wieviel habt ihr heute geschafft‘, dann spüren die Mitarbeitenden schnell, dass die Produktivität für die Führungskraft einen viel höheren Stellenwert hat als die Sicherheit.“ Damit das Leitbild im Unternehmen umgesetzt wird, müssten die Werte und Ziele auch von der Managementebene gewollt sein und für alle im Unternehmen gelten.
 

EIN PARTIZIPATIVER PROZESS


Um ein Leitbild zu entwickeln, das möglichst viele Menschen im Unternehmen mittragen, ist ein partizipativer Entwicklungsprozess notwendig. Da gäbe es keinen „One-Size-Fits-All“- Ansatz, meint Annette Kluge. Es käme auf die Organisation, ihre Größe und Vorgeschichte an. Personen in kleineren Unternehmen könnten in mehreren aufeinander folgenden Workshops an einem Leitbild arbeiten. Unternehmen mit mehr als 10.000 Beschäftigten könnten unterschiedliche Partizipationsformen kombinieren. „Beispielsweise erarbeitet eine Kerngruppe aus gewählten Vertretern unterschiedlicher Beschäftigungsgruppen eine erste Version, die dann im Intranet oder in Teammeetings kommentiert werden kann“, so Annette Kluge.

Ein Leitbild sollte in Form von kurzen Leitlinien formuliert sein, mit fünf bis maximal sieben zentralen Formulierungen, die eingängig sind und die Grundbotschaft transportieren, sagt Kluge. Dabei sollte es gut verständlich sein. Was selbstverständlich klingt, ist in der Praxis scheinbar gar nicht so leicht. In einer Studie der Universität Hohenheim von 2023 wurden die 120 umsatzstärksten Unternehmen der DACH-Region untersucht. Nur elf von 120 Unternehmen erreichten das empfohlene Verständlichkeitsniveau. Das verständlichste Leitbild hatte der deutsche Großhändler Lekkerland. Seine Mission: „Wir machen unsere Kunden erfolgreich.“ Ein weiteres Zitat aus dem Text: „Wir machen Menschen unterwegs glücklich, indem sie jederzeit und überall die Produkte genießen können, die sie sich gerade wünschen.“
 

IN DIE PRAXIS UMSETZEN


Ist das Leitbild einmal erstellt, geht es darum, die Werte auch im Unternehmen zu verankern und zu leben. „Das ist die wichtigste Aufgabe von allen, aber da herrscht oft große Ratlosigkeit“, sagt Annette Kluge. Viele Unternehmen würden bei der Leitbilderstellung aufhören. Dabei könne man nicht davon ausgehen, dass die Mitarbeitenden das Leitbild einmal lesen und dann danach handeln. Eine Herangehensweise ist, das Leitbild oft genug ins Gedächtnis zu rufen, durch besagte Poster oder Giveaways. Doch damit hört es nicht auf. Ein wichtiger Schritt wäre, so Kluge, die Unternehmenswerte auf Führungskräfteseminaren zu diskutieren und sie in die Feedback- und Bonussysteme für Führungskräfte mit aufzunehmen. „Damit ein Leitbild auch verhaltenswirksam wird, muss es in die Personalentwicklungsinstrumente, in die Belohnungsstruktur und in die Führungskräfteentwicklung implementiert werden.“

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