Superkraft Imagination

Die Anforderungen an die Arbeit der Zukunft ändern sich drastisch. Vielleicht ist es an der Zeit, Bildung und Weiterbildung ganz grundsätzlich neu zu denken. Impulse dazu könnte die Zukunftswissenschaft geben.

Illustration: Christian Sommer
Illustration: Christian Sommer
Aileen Moeck Redaktion

Welche Kompetenzen benötigen wir, um uns in einer immer komplexer werdenden Welt, oft auch mit dem Akronym VUKA (volatil, unsicher, komplex und ambivalent) beschrieben, zurechtzufinden? Darüber zerbrechen sich Bildungsexpertinnen und -experten schon seit geraumer Zeit den Kopf. Viele dieser sogenannten 21st Century Skills sind inzwischen sehr genau ausbuchstabiert und im Rahmen des 4K-Modells in vier Grundfähigkeiten zusammengefasst: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken. Im schulischen Kontext, aber auch im Rahmen der beruflichen Weiterbildung, werden inzwischen zahlreiche Formate angeboten, welche diese Zukunftskompetenzen adressieren.

Dabei gibt es eine zentrale Fähigkeit, die es uns als Menschen ganz grundsätzlich ermöglicht, mit den Unwägbarkeiten der Zukunft umzugehen und bislang im Kontext von Bildung und Weiterbildung noch viel zu wenig beachtet wird: die menschliche Vorstellungskraft. Bilder zu konstruieren, ist eines der wichtigsten menschlichen Werkzeuge und das, was uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Denn es befähigt uns zur Kooperation, wie es unter anderem der Globalhistoriker Yuval Noah Harari in seinen Büchern immer wieder betont. Wir Menschen haben als Menschen zusammengefunden, weil wir uns Geschichten erzählen und gemeinsam daran glauben. Warum ist das wichtig? Es betont die oft vergessene Tatsache, dass alles Zwischenmenschliche – von Kultur bis Bürokratie – menschengemacht ist. Wir konstruieren die Welt, in der wir leben, mit den Worten, die wir benutzen, und mit den Bildern, die wir zeichnen.

Ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Wir als Menschen sind im Besitz einer Superkraft. Wir können uns Welten vorstellen, die heute noch nicht unsere sind, wohl aber morgen schon Realität werden können.
 

Futures Literacy

 

Was hat das alles mit dem Arbeitsmarkt der Zukunft zu tun? Nun, ein bewusster Einsatz unserer Vorstellungskraft könnte dabei helfen, etwas auszubilden, was die UNESCO als Futures Literacy definiert. Im Englischen beschreibt Literacy ein Set aus Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen, welche die Entwicklung des Lesens und Schreibens fördern. Während es etwa bei Digital Literacy darum geht, ein möglichst grundlegendes Denkverständnis für den Umgang mit dem Digitalen zu entwickeln, bezeichnet Futures Literacy eine Art Zukunftsalphabetisierung oder Zukunftskompetenz – man könnte auch sagen: die Fähigkeit aktiven Zukunftsdenkens und -gestaltens.

Dazu gehört auch ein tieferes Verständnis, wie Zukunft überhaupt entsteht. Genau damit beschäftigt sich die Zukunftswissenschaft. Wenn die meisten von uns an Zukunft denken, dann denken wir an ein Zeitkonstrukt, vielleicht ganz konkret an einen Termin, der ansteht, oder an ein diffuses Gefühl etwa der Euphorie oder Angst. Mit Plänen oder Vorhersagen versuchen wir dabei, Zukünftiges greifbar zu machen und uns vorzubereiten. Wir antizipieren und unser Gehirn skizziert ein mentales Modell aufbauend auf Erfahrungen aus der Vergangenheit und Informationen aus der Gegenwart.

Sich konstruktiv mit Zukunft auseinanderzusetzen, meint aber mehr als Prognosen zu erstellen. Vielmehr geht es darum, Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit zusammenzudenken, Brücken zu bauen, Muster zu erkennen, Pfade abzuleiten, Intentionen zu verstehen, Verhalten und Gefühle aufeinander zu beziehen und vor allem: Ein positives Bild von sich selbst in der Zukunft zu zeichnen. Erst dann werden wir handlungsfähig. Und nur so lassen sich trotz aller Unsicherheit und Komplexität im Heute gute und vertrauensvolle Entscheidungen treffen.
 

Arbeit mit Alternativen

 

Und so ist mit der Ausbildung von Futures Literacy auch nicht gemeint, Menschen darin zu trainieren, besser Vorhersagen zu machen. Sondern sie meint vielmehr die breite Aktivierung der menschlichen Vorstellungskraft im Sinne eines kreativen Zugangs zu Neuem, Wandel und Komplexität. Sie soll helfen, die Auswirkungen des eigenen Handelns frühzeitig zu verstehen, indem wir uns neben dem vorausschauenden Denken auch in einem systemischen und kritischen üben und vor allem eigene Zukunftsanker setzen.

Bewusstes Zukunftsdenken setzt eine Arbeit mit Alternativen und Langfristigkeit in den Mittelpunkt, die in unserer auf Kurzfristigkeit ausgelegten modernen Welt oft zu wenig Raum bekommt, etwa die Wiederaufforstung von Wäldern in 100 Jahren. Als mentales Frühwarnsystem kann uns der Futures Literacy Dreiklang aus Antizipation, Reflexion und Imagination helfen, zu erkennen, wie unser Handeln oder eine Idee in anderen Kontexten oder Zeiten wirkt. Es geht dabei um die Fähigkeit, nicht nur aktiv und bewusst antizipieren zu können, sondern vielmehr verschiedene Antizipationssysteme und Prozesse zu kennen, zu verstehen und je nach Kontext und Zweck bewusst zu wählen und einzusetzen. Zukunft beschreibt nicht mehr nur das, was morgen kommt, sondern steht für ein Bewusstsein, das ganz neue Denk- und Handlungsräume eröffnet.

Wie selbstverständlich lernen wir in der Schule über Geschichte. Mit der Frage aber, welche langfristigen Ziele wir als Menschheit anstreben und wie jeder von uns sich täglich von einem Heute in ein Morgen bewegt, beschäftigen sich noch die wenigsten. Schließlich findet sich Zukunftskunde bisher noch auf keinem Lehrplan. Dabei war die Auseinandersetzung mit ihr nie wichtiger als im aktuellen Jahrzehnt der Transformation und im Alltag der gefühlten Dauerkrisen. Wenn es darum geht, sich aktiv (und positiv) mit dem Morgen zu beschäftigen. Was wir dringend brauchen, ist ein neuer, kollektiver Zukunftsmut. Um Zukunftsvorstellungen aktiv zu erkunden, neue und vielfältige Bilder möglicher Entwicklungen zu zeichnen. Und zwar solche, die auf Wünschbarkeit aufbauen und uns motivieren und helfen, geistige Anker in einem Meer aus Ungewissheit zu setzen.

AILEEN MOECK ist Zukunftsforscherin und Expertin für Innovation und Transformation. Derzeit arbeitet sie als Stabsreferentin für Bildungs- und Familienpolitik der Zukunft der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag.
 

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