Sie ist da, die Industrie 5.0. Sie ist neu, sie ist anders, und wenn man sie mit nur wenigen Worten beschreiben müsste, klänge es wohl so: eine ganz neue Art der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Denn anders als viele befürchten und manche behaupten, wird Künstliche Intelligenz nicht schon morgen die Weltherrschaft übernehmen. Elon Musk hatte zwar erst im Mai auf der Viva Tech 2024 in Paris verlauten lassen, die KI würde schon bald alle Jobs übernehmen: „Wenn Sie einen Job machen wollen, der so etwas wie ein Hobby ist, können Sie einen Job machen. Aber ansonsten werden KI und Roboter Ihnen alle Waren und Dienstleistungen liefern, die Sie wollen.“ Ganz so, wie er die Zukunft malt, ist sie zumindest in absehbarer Zeit jedoch noch nicht. Ob leider oder Gott sei Dank – das kommt auf die Perspektive an. Nun gibt es die KI nicht erst seit gestern, und vor allem in der Industrie sind Algorithmen und Automatisierung schon lange fester Bestandteil moderner Produktionsstätten. Was die Industrie 4.0 – hier haben KI, Datenanalyse und maschinelles Lernen vor allem die Interaktion zwischen physischer und digitaler Welt revolutioniert – von der Industrie 5.0 unterscheidet, ist tatsächlich ein harmonisches Gleichgewicht zwischen den Menschen und der Technologie, die den Arbeitsalltag erleichtert. „Human-centric“ heißt das Schlagwort, das den Menschen und nicht die KI ins Zentrum rückt.
MENSCHLICHE INTELLIGENZ IST ANDERS
Der Arbeitssoziologe Martin Krzywdzinski, Direktor am Berliner Weizenbaum-Institut, hat auf der 37. Berliner Sommeruni im September einen Vortrag zur „Künstlichen Intelligenz in der Arbeitswelt“ gehalten, den er mit einer Argumentation begann, warum der Begriff Künstliche Intelligenz aus seiner Sicht denkbar „unglücklich“ gewählt ist. Denn Algorithmen würden ganz anders funktionieren als menschliche Intelligenz. Er glaubt, wir würden der KI heute nicht so eine Mächtigkeit zuschreiben, wenn sie stattdessen „maschineller Problemlöser“ heißen würde.
Und genau dieser Gedankengang ist, der die Industrie 5.0 antreibt. Massenautomatisierung ist in bestimmten Anwendungen eine gute Sache. Sie behebt an vielen Stellen menschliche Fehler und somit Sicherheitsrisiken. Maschinen können alltägliche Aufgaben erledigen, ohne dass sie müde werden, abgelenkt sind oder unter den körperlichen Belastungen krank werden. Aber Maschinen denken nicht so wie wir. Ja, sie können ungleich viel mehr Daten und Informationen verarbeiten als das menschliche Gehirn. Aber ohne den Menschen, der diese Informationen in einen Kontext setzt, könnte die KI keine Aufgabe lösen.
ZUSAMMENARBEIT SCHAFFT INNOVATION
Der Mensch wird in der Industrie 5.0 also wieder zum Schlüsselelement – indem die Stärken seiner Intelligenz wie Kreativität, Einfühlungsvermögen, Erfahrung und komplexe Entscheidungsfindung mit der großen Rechenleistung der KI kombiniert werden. Diese Kombination von menschlichem Einfallsreichtum mit der Leistung des Industrial Internet of Thing (IIoT) und der KI schafft in Unternehmen ein Gleichgewicht zwischen Automatisierung und Personalisierung.
Heruntergebrochen auf eine Fabrik, in der das IIoT Maschinen kontinuierlich überwacht, wäre die Industrie 4.0-Konfiguration ein System, das automatisch Parameter anpasst, um die Effizienz zu optimieren. In einem Industrie 5.0-Szenario würden dieselben Daten in eine Augmented-Reality-Schnittstelle eingespeist, in der Mitarbeitende anhand der Daten – und seiner eigenen Expertise – Änderungen am Prozess in Echtzeit vornehmen kann. Und auch das ist Teil der human-zentrierten Industrie 5.0: In einer Zeit, in der viele Geschäftsentscheidungen von Technologie bestimmt werden, verliert man leicht aus den Augen, dass hinter jedem Unternehmen Menschen stehen – Beschäftigte, Kund:innen und Interessengruppen. Menschen, nicht nur Maschinen oder Algorithmen, werden die Zukunft der Arbeit gestalten. Es geht nicht mehr nur darum, wie schnell Innovationen entstehen, sondern auch, ob sie sinnvoll sind. Nachhaltigkeit spielt eine immer größere Rolle. Deshalb verändern sich vor allem die Anforderungen an die Führung. Flexible Arbeitszeiten oder die Möglichkeit der Telearbeit waren gestern. Heute gilt es, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich die Mitarbeitende geschätzt, unterstützt und motiviert fühlen. Indem eine Kultur des Vertrauens und der Zusammenarbeit gefördert wird, können Unternehmen Kreativität und Innovation auf eine Weise freisetzen, die Maschinen einfach nicht nachahmen können.
Dass es sich hierbei nicht um Altruismus handelt, zeigt eine von der Harvard Business Review veröffentlichte Studie. Unternehmen, die sich für ethische Geschäftspraktiken und nachhaltige Entwicklung einsetzen, bauen in der Regel stärkere und widerstandsfähigere Marken auf. Indem sie ihre Geschäftspraktiken mit einem umfassenderen sozialen Zweck in Einklang bringen, schaffen sie langfristige Werte, die sowohl dem Unternehmensergebnis als auch der Allgemeinheit zugutekommen.
SKILLS FÜR DIE INDUSTRIE 5.0
Dass Arbeitnehmer für die nächste industrielle Evolutionsstufe eine gewisse Technikaffinität mitbringen müssen, dürfte mittlerweile klar geworden sein. Welche Fähigkeiten der Mensch außerdem braucht, bringen Birgit Vogel-Heuser und Klaus Bengler von der Technischen Universität München in einem in „Praxis der Wirtschaftsinformatik“ erschienenen Fachartikel zur Industrie 5.0 sehr treffend auf den Punkt: „Was der Mensch besser macht, macht der Mensch, während der Roboter
repetitive, kraftraubende Aufgaben übernimmt.“
Erste Universitäten bilden bereits Industrie-5.0-spezifische Weiterbildungen an. So gibt es im italienischen Bozen zwei neue, einjährige Masterstudiengänge, die Menschen berufsbegleitend auf die Anforderungen der Industrie 5.0 vorbereiten sollen, indem sie die technologische Wissensbasis schaffen. Und die private Diploma Hochschule hat gemeinsam mit der chinesischen Xi’An Aeronautical University ein Zentrum für angewandte Technologien für die Industrie 5.0 ins Leben gerufen. Der dortige Schwerpunkt: Mensch-Technik-Interaktion sowie die Balance von Mensch, Natur und Technik unter Einsatz von künstlicher Intelligenz.