Smartes Lernen

In einer Arbeitswelt, in der Wissen immer schneller veraltet und neue Kompetenzen oftmals quasi unmittelbar in die Praxis einfließen müssen, wird nach neuen Konzepten gesucht.
Illustration: Julia Schwarz
Klaus Lüber Redaktion

Unsere Arbeitswelt ist im Wandel. Und unser Bildungssystem? Das sollte sich bestmöglich anpassen. Diese Meinung scheint inzwischen gesellschaftlicher Konsens zu sein, auf den Punkt gebracht und breit diskutiert unter dem Label „lebenslanges Lernen“. Die Frage ist nur: Wie genau sieht dieser permanente Bildungsprozess aus? Welche Lerninhalte sind zum Erwerb welcher zukünftigen Kompetenzen relevant? Und welche Techniken sind hierzu sinnvoll?


Eines scheint zunächst klar: Die Art und Weise, wie wir uns Wissen aneignen, wird vielfältiger. Neben der formellen und nonformellen Bildung ist heute die informelle Bildung hinzugekommen. „Wenn man die Menschen ganz konkret fragt, wie sie sich denn weiterbilden in diesem ständigen Prozess des Lernens, sagen mehr als die Hälfte: Das mache ich selbst, durch Ausprobieren – zum Beispiel auf Grundlage von YouTube“, so Ole Wintermann, Experte für New Work bei der Bertelsmann Stiftung. Bei nur noch knapp einem Fünftel finde das im Rahmen von klassischen arbeitgeberorganisierten Schulungen und Weiterbildungen statt.


Informelles Lernen über Kanäle wie YouTube ist für Wintermann ein erstes Anzeichen, was sich am Wissenserwerb in Zeiten der Digitalisierung qualitativ ändern könnte. „Selbstmanagement wird immer wichtiger. Es geht für jeden Einzelnen darum, herauszufinden, welche Kompetenzen er für seine spezifische Tätigkeit benötigt. Ich selbst muss wissen, was für mich und meine Arbeit sinnvoll ist. Im klassischen Kontext einer Fortbildung ist dies kaum noch zu leisten.“


Warum dies eigentlich so ist, damit befasst sich Lothar Abicht, Professor an der TU Chemnitz. Seine Theorie: „Das Lernen auf Vorrat funktioniert nicht mehr.“ Zwar könnten und sollten im Rahmen der Ausbildung gewisse Grundkompetenzen vermittelt werden. Das Problem sei nur, dass Wissen immer schneller veralte und Probleme immer multidisziplinärere Lösungsansätze verlangten. „Es ist doch heute schon so, dass man an einem bestimmten Thema arbeitet, an einer Stelle nicht weiterkommt und dann anfängt zu lernen, bis man die Aufgabe schließlich lösen kann. Wir nennen das Lernen in Problemlösungsprozessen.“


Sowohl Wintermann wie auch Abicht beschreiben diese Veränderung im Wissenserwerb als eine notwendige Reaktion auf einen Trend im Arbeitsmarkt, für den sich das Label „Permanent Beta“ etabliert hat. Da die Lebenszyklen von Produkten und Dienstleistungen immer kürzer werden, müssen auch die Kompetenzen der Mitarbeiter entsprechend angepasst werden. „Im Kern geht es darum, sich von einer Welt zu verabschieden, in der Produkte, Dienstleistungen oder Kompetenzen für eine längere Zeit Bestand haben“, so Wintermann. „Man muss damit leben, unfertig zu sein, ist oftmals gezwungen, im Prozess sofort umzuschalten“, ergänzt Abicht.


So schlüssig sich das in der Theorie anhört, so schwierig ist es, diese Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen. Zwar fließt die Theorie des Lernens in Problemlösungsprozessen bereits in Konzepte wie Smart Learning Environments ein, deren Idee es tatsächlich ist, Wissen passgenau immer dann zur Verfügung zu stellen, wenn es gebraucht wird und sich dabei perfekt in den Arbeitsprozess einfügt. Doch dieser Ansatz ist komplex, wie die Expertin für Smart Learning Sirkka Freigang von Bosch Software Innovations zu berichten weiß.


„Damit so etwas gelingt, müssen zunächst eine ganze Reihe von Faktoren berücksichtigt und in ihrem dynamischen Zusammenwirken analysiert werden“, so Freigang, die im Rahmen ihrer Promotion ein Framework für IoT-basierte Lernkonzepte am Arbeitsplatz entwickelt hat. Zunächst gehe es darum, in einer ersten Dimension die Unternehmenskultur auf neue Lernformate einzustellen. Die nächsten Schritte seien die Personalisierung der Lernumgebung, die Etablierung didaktischer Vielfalt, ein passendes physisches Umfeld und, zuletzt, quasi als Tüpfelchen auf dem i, der Einsatz von Technologie, etwa mittels AR (Augmented Reality) oder digitaler Assistenzsysteme. „Denkbar wäre es, kontextbezogene Informationen via Internet-of-Things-Technologie zu erheben, diese mit digitalen Lernprozessen zu verknüpfen und mittels Künstlicher Intelligenz auszuwerten.“


Allerdings, gibt sie zu bedenken, steckten solche intelligenten Assistenzsysteme am Arbeitsplatz noch in den Kinderschuhen. Auch bestünden erhebliche Herausforderungen im Bereich Datenschutz. „Solche Systeme basieren wesentlich auf der Auswertung personenbezogener Daten, über die zum Beispiel Lernhistorien angelegt werden. Und da ist es sicher sinnvoll, sich genau zu überlegen: Wollen wir das? Und wenn ja, in welchem Umfang, sodass die Datensouveränität auch immer beim Nutzer bleibt.“


Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Aspekte, die beim Aufbau einer innovativen Lernumgebung zu beachten sind. Einen wichtigen Punkt benennt Christian Friedrich, der als Geschäftsführer den Bereich Digital Learning Solutions der Haufe Akademie verantwortet. „Wir wissen, dass der Aufbau von Wissen allein wenig nachhaltig ist, wenn man dem Lernenden keine Gelegenheit gibt, es anzuwenden. Genau das leisten zeitgemäße Systeme und Plattformen, die selbstgesteuertes Lernen unterstützen. Sie helfen dabei, relevante Informationen direkt im Workflow zu integrieren.“ Für die Zukunft wünscht Friedrich sich Lernsysteme, die den Lernenden je nach Kompetenzlevel unterstützen, eigene individuelle Lernwege zu finden. „Was wir brauchen, sind Learning Experience Plattformen, die sich vom klassischen Weiterbildungsverständnis lösen und der Dynamik der heutigen Arbeitswelt gerecht werden. In Zukunft wird es notwendig sein, dass Menschen mit dem gleichen Problem individualisierte Lösungsstrategien entwickeln können.“


Man muss solche Szenarien nicht uneingeschränkt positiv bewerten. Susanne Narciss, Professorin für Psychologie des Lehrens und Lernens an der TU Dresden, spricht in diesem Zusammenhang von den Paradoxien der Automation. Performance-Support-Systeme könnten den Menschen leistungsfähiger machen, indem sie ihm informationsverarbeitende Prozesse abnehmen. „Wir wissen jedoch, dass Wissens- und Kompetenzerwerb nur dann stattfindet, wenn man sich intensiv mit Informationen auseinandersetzt“, so Narciss. „Je mehr uns das Selbstdenken abgenommen wird, desto mehr verlieren wir die Gelegenheit, es zu üben und zu trainieren. Und wenn man Wissen und Kompetenzen nicht anwendet, kann man sie nicht weiter entwickeln oder verliert sie sogar.“

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