In der Zitronenpresse

Im Kampf um knappe Ressourcen verharren Unternehmen in alten Mustern, ohne auf Zukunftsthemen zu setzen. Dabei verkennen sie die Chancen für eine bessere Arbeitskultur.
Oliver Kowalski, Business-Unit-Leiter bei der Personalberatung Hays
Oliver Kowalski, Business-Unit-Leiter bei der Personalberatung Hays
Hays AG Beitrag


Nicht nur demographische Veränderungen und Digitalisierung durchdringen die Organisationen mittlerweile bis in jeden Winkel. Auch die Auswirkungen von Pandemie und Krieg stellen Unternehmen zusätzlich vor große Herausforderungen. Jetzt geht es vor allem darum, mit bestehenden Mitteln effizient zu haushalten und die richtigen strategischen Weichen zu stellen. Wie sich das Investitionsverhalten deutscher Firmen vor dem Hintergrund der limitierenden Faktoren Zeit, Personal und Geld ausgestaltet, und mit welchen Maßnahmen sie diesem Spannungsfeld begegnen, hat unser aktueller HR-Report „Organisationen unter Druck“ herausgefunden. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Beschäftigung und Employability (IBE) haben wir dazu 978 betriebliche Entscheider:innen  aus der DACH-Region befragt. Erklärte Prioritäten für die meisten Führungskräfte: den Umsatz zu steigern (44 Prozent) sowie ihr Kerngeschäft zu stabilisieren (38 Prozent). Vieldiskutierte Zukunftsthemen wie Nachhaltigkeit oder Diversity Management haben im strategischen Kontext eine verschwindend geringe Bedeutung. Ganz klar: Wenn es ernst wird, kümmert das Management sich um den Maschinenraum, nicht um das Schaufenster.
 

Klassische Reaktionsmuster dominieren die Top-Agenda

 

Für die Sicherung von Umsatz und Kerngeschäft wollen die meisten mehr Geld in ihre Digitalisierungsvorhaben stecken (57 Prozent) sowie die Op-timierung ihrer Prozesse beschleunigen (51 Prozent). An eine Priorisierung der Mitarbeitenden wird dabei nicht gedacht. Und das, obwohl  man zwingend fähige Kräfte braucht, um technische Investitionen überhaupt realisieren zu können. Das zeigt: Bei vielen Entscheidenden herrschen selbst angesichts längst bekannter New-Work-Prinzipien immer noch die klassischen Reaktionsmuster vor. Wenn es wirtschaftlich eng wird, muss man eben die Arbeitsprozesse noch weiter straffen. Arbeitsbelastung hin oder her. Schließlich soll die hohe Digital-Investition  am Ende Produktivitätszuwächse bringen. Da müssen die Mitarbeitenden eben noch mehr in noch kürzerer Zeit erledigen.  Mit immer stärkerem Fokus auf diese Optimierung stellt die Führung damit die Technik als wesentlichen Effizienz- und Rationalisierungsbringer in den Mittelpunkt ihrer strategischen Überlegungen. Ein paralleler Shift von Organisation und Arbeitskultur ist laut der Studienergebnisse nicht erkennbar. Dabei ist genau der dringend nötig. Denn um auf die enorme Veränderungsgeschwindigkeit in Form von Optimierung und Digital-Push reagieren zu können, verdichtet sich die Arbeitsleistung der Mitarbeitenden (z.B. Parallel-Projekte) Tag für Tag. Die Folge: Zeit und vor allem die mentale Verarbeitungskapazität werden immer knapper. Viele Menschen fühlen sich schon seit langem wie im digitalen Hamsterrad: Sie versuchen im Akkordtempo, komplexe Aufgaben in Windeseile zu lösen. Und das nur, um am Ende dem Ergebnisdruck Genüge zu tun. Zeit zur vernünftigen Reflektion oder gar Pausen: Fehlanzeige.
 

Mitarbeitergewinnung allein ist nicht die Lösung

 

Die Unterhaltungsindustrie arbeitet hier gerne mit der Analogie der ausgepressten Zitrone. Man presst Erfolg und Ruhm aus einer Person so lange heraus, bis sie völlig erschöpft ist und nichts mehr geht. Das ist dann der Zeitpunkt, an dem sie „ent-sorgt“ wird und ein junges frisches Talent die Bühne betritt. Damit so etwas nicht in der Wirtschaft passiert, müssen Entscheider:innen in puncto Investitionsentscheidungen schleunigst den Hebel umlegen. Es kann nicht sein, dass nach wie vor nur das Ergebnis zählt, aber der Weg dorthin nebensächlich ist. Der strategische Blick auf die Veränderungen in den Arbeitskulturen braucht im Kontext harter Businessziele einen ebenso hohen Stellenwert. Und um es gleich vorweg zu nehmen: Allein mit verstärkter Mitarbeitergewinnung (39 Prozent) kann man der Entlastung der bestehenden Mannschaft nicht beikommen. Warum? Erstens ist der Arbeitsmarkt für gute Fachkräfte mehr als leergefegt, dementsprechend lange würden Neubesetzung und Onboarding-Prozess dauern. Zweitens ist es mehr als fraglich, ob dieser häufig reflexhaft eingeschlagene Weg wirklich genügend Lösungspotenzial beinhaltet. Schließlich ist die Rekrutierung und Einarbeitung neuer Mitarbeitender mit enormen Kosten verbunden.
 

Human Case schließt den Business Case nicht aus

 

Aber warum hat der Invest in die Entwicklung und Entlastung der eigenen Belegschaft so wenig strategische Bedeutung? Die Studien-teilnehmer:innen haben sich offensichtlich im Zuge ihrer Produktivitätsüberlegungen damit noch nicht ausreichend beschäftigt. Dabei steckt in einer systematischen Balance zwischen Zeit und Personal viel Potenzial, um die Arbeitskultur zu verbessern und gleichzeitig Produktivitätsziele zu erreichen.  Der Human Case schließt den Business Case nicht aus. Einige wenige Führungskräfte (29 Prozent) haben das erkannt. Sie sprechen sich bei den wichtigen Strategiezielen klar für die Reduktion der Arbeitslast aus, um den zeitlichen Druck von einzelnen Positionen zu nehmen. Dafür arbeiten sie  an flexiblen Arbeitsmodellen und Konzepten für mehr Work-Life-Integration, und erreichen damit gleichzeitig verstärkt weibliche Talente, die Karriere und Familie unter einen Hut bringen müssen.
 

Es gilt: Produktiv sein und gleichzeitig weniger arbeiten

 

Für diese Entscheidenden scheint  es nicht unbequem zu sein, auf zeitliche und personelle Engpass-Situationen mit neuen Ansätzen, wie Stelle und Workload auszubalancieren, zu reagieren. Denn damit entlasten sie ihre Mitarbeitenden nicht nur von der reinen Dichte ihrer Arbeitspensen, sondern schaffen auch Freiräume für mehr Kreativität. Darüber hinaus ist bekannt, dass eine Stärkenorientierung im Personaleinsatz entlastend wirkt. Beschäftigte, die entlang ihrer Talente eingesetzt und qualifiziert werden, empfinden jede Art von Druck oder Veränderung weniger stressig und risikoreich. Denn für bestehende aber auch neue Mitarbeitende wird künftig immer mehr die Frage im Mittelpunkt stehen: Wie kann ich produktiv sein und gleichzeitig weniger arbeiten? Für Unternehmen bedeutet das, Arbeitsmodelle und Angebote zu entwickeln, die den Menschen einen souveränen Umgang mit ihrer Zeit versprechen. Anders ausgedrückt: Sie müssen herausfinden, wie trotz hoher digitaler Komplexität und Schnelligkeit die Autonomie der Mitarbeiter unberührt bleiben kann.  Erst dann werden sie zu einem wirklich attraktiven Arbeitgeber werden. Führungskräfte, die davor die Augen verschließen, werden über kurz oder lang ihre besten Mitarbeitenden verlieren.


www.hays.de/lp/hr-report

 

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