Über Grenzen hinaus denken

Deutschland ist für hochqualifizierte Akademiker:innen aus dem Ausland noch zu wenig attraktiv. Wie könnte das besser werden?

Illustration: Rosa Viktoria Ahlers
Illustration: Rosa Viktoria Ahlers
Mirko Heinemann Redaktion

Wenn man Freundinnen oder Verwandten außerhalb der Hauptstadt erzählt, dass man hier in Cafés manchmal nur noch auf Englisch bestellen kann, heben sie ungläubig die Augenbrauen. Aber es ist so: „Sorry, only English.“ Oder: „English please“, heißt es, wenn oftmals junge Bedienungen mit einem entschuldigenden Lächeln auf ihre mangelnden Deutschkenntnisse verweisen. Kein Problem, zumal die meisten Bewohner:innen der Hauptstadt des Englischen mächtig sind und es auch gerne einsetzen. Alles andere würde der Metropole nicht angemessen wirken. Oder? In Kleinstädten und im ländlichen Raum mag man das anders sehen. In Ordnung, aber es ist auch kein Wunder, wenn auf englischsprachigen Internetportalen für Jobnomaden in der Regel Berlin auf Platz Eins steht, wenn es um das Leben und Arbeiten in Deutschland geht. Deutschland gilt als attraktiv, wegen der starken Wirtschaft, der hohen Lebensqualität, der lebendigen Startup-Szene, der guten Infrastruktur und öffentlichen Verkehrsmittel. Und wegen der hohen Englisch-Kompetenz. 56 Prozent der Deutschen sprechen Englisch, und immer mehr Unternehmen und vor allem Start-ups machen es zur Hauptsprache. In Berlin ist es die lebendige Kunstszene, die historische Bedeutung, das weltweit bekannte Nachtleben, Restaurants, Kunstgalerien, Theater, Musikveranstaltungen und Museen, die eine starke internationale Community anziehen. Über 25.000 englische Muttersprachler sollen hier leben.

Englisch wird gefühlt fast überall gesprochen – auch von Nicht-Muttersprachlern –, was Neuankömmlingen die Eingewöhnung erleichtert. Außerdem ist Berlin im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten noch relativ erschwinglich, mit einer großen Auswahl an Wohnmöglichkeiten und kostengünstigen Annehmlichkeiten. „Wenn Sie auf der Suche nach dem perfekten Instagramtauglichen Ort zum Arbeiten sind, hat Berlin viele davon zu bieten: Überall in der Stadt gibt es Cafés und Coworking-Bereiche“, wirbt das Portal Remofirst, das sich an Remote-Worker richtet. Darüber hinaus verfüge die Stadt über ein wachsendes Ökosystem für Start-ups und ist ein Zentrum für Technologie, Medien und die Kreativwirtschaft. „Damit bietet sie Vernetzungsmöglichkeiten und Jobaussichten für Telearbeiter in Sektoren wie Finanzen und Forschung.“

 

»Berlin zeigt beispielhaft, wie Deutschland im Wettbewerb um die besten Köpfe des Planeten nicht abgehängt werden muss.«

 


Diese Ode an Berlin zeigt beispielhaft, wie Deutschland im Wettbewerb um die besten Köpfe des Planeten nicht abgehängt werden muss. Über Grenzen hinaus denken – das ist die Devise, wenn es um das Ringen um die besten Köpfe geht. Denn Deutschland gehört eben nicht zu den OECD-Staaten mit den attraktivsten Rahmenbedingungen für hochqualifizierte Fachkräfte, Unternehmer:innen und Start-up-Gründer:innen aus dem Ausland, wie eine aktuelle Studie der OECD mit Unterstützung der Bertelsmann Stiftung noch einmal betont. 

Als Gründe führen die Autor:innen die mangelnde Digitalisierung an, das schlechte Abschneiden bei der gesellschaftlichen Akzeptanz von Migrant:innen und den geringen Anteil von Frauen im Innovationsgeschehen. Auch wichtig: Deutschland stellt im Gegensatz zu vielen Ländern keine „Start-up-Visa“ aus, um internationale Unternehmer:innen für die Gründung innovativer Firmen zu gewinnen. Fazit: „Für hochqualifizierte Akademiker:innen bleibt Deutschland weiterhin nur mäßig attraktiv – mit absteigender Tendenz.“

Auch internationale Unternehmen, für die Deutschland zweifellos ein attraktiver Standort sein müsste, sind nicht begeistert. Obwohl es seit 2019 keine nennenswerten Änderungen bezüglich der Zulassung von Unternehmer:innen aus dem Ausland gegeben habe, ist Deutschland laut OECD-Studie in der Rangliste für Unternehmer:innen von Platz 6 in 2019 um sieben Plätze abgerutscht und hat sich somit stark von der Spitzengruppe, bestehend aus Schweden, der Schweiz, Kanada, Norwegen und Neuseeland, entfernt. Auch hier: Die Visumsregelungen seien zu streng. Während andere sich für Unternehmen aus dem Ausland öffnen, besteht Deutschland immer noch auf einer Mindestkapitalanforderung an Unternehmensvisa. Zusätzlich behindern ein vergleichsweise strenger Kündigungsschutz, regulatorische Hindernisse beim Zugang zu Märkten und Wettbewerb sowie eine „nur mäßige Handelsoffenheit“ die unternehmerischen Chancen.

Hauptsächlich tragen jedoch, ähnlich wie bei zugewanderten hochqualifizierten Akademiker:innen, Versäumnisse bei der Digitalisierung zu Deutschlands schlechtem Abschneiden bei. In der Dimension „Kompetenzumfeld“ für Unternehmer:innen hinkt Deutschland beim Zugang zu Glasfaser - Internet sowie der Digitalisierung von Visa und Aufenthaltstiteln hinterher. Zuletzt besteht auch bei der Dimension „Diversität“ Nachholbedarf. So rangiert Deutschland bei der Akzeptanz von Migrant:innen nur im Mittelfeld. Ähnlich wie bei hochqualifizierten Akademiker:innen könnte sich Deutschland mit verbesserten Visabedingungen und stärkerer Digitalisierung deutlich in der Gesamtbewertung verbessern. 

In krassem Widerspruch dazu steht die hohe Attraktivität des Standorts Deutschlands unter Studierenden: Hier biete Deutschland „hervorragende Rahmenbedingungen“, so die Studie. Seit 2019 konnte sich die Bundesrepublik in dieser Zielgruppe weiter verbessern und rangiert nunmehr vor dem Vereinigten Königreich und hinter den Vereinigten Staaten auf Platz zwei der Spitzengruppe. Deutschland punkte mit einer im Vergleich zu anderen Nicht-Englischsprachigen Ländern großen Anzahl von Exzellenzuniversitäten sowie einem großen Angebot von Hochschulprogrammen in englischer Sprache. Darüber hinaus seien die Studiengebühren niedrig, die Möglichkeiten, neben dem Studium zu arbeiten, seien gut, wie auch die Bleibemöglichkeiten nach dem abgeschlossenen Studium.

Jetzt ginge es also nur noch darum, die begeisterten Studierenden im Land zu behalten und ihnen eine Perspektive zu eröffnen. Mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist ein wichtiger Schritt getan worden. Attraktive Bedingungen für ausländische Fachkräfte lassen sich aber nicht allein durch die Gesetzgebung herstellen, sondern beruhen auf einer ganzen Reihe wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Faktoren, wie auch die OECD-Studie betont. Den Kaffee auf Englisch bestellen zu können, ist da nur noch das Sahnehäubchen auf einer insgesamt verbesserungswürdigen Willkommenskultur, die Deutschland gut bekommen würde.

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