Stabilität ist Trumpf

Energie soll in Zukunft vor allem eines sein: erneuerbar. Dafür wird jetzt das gesamte System umgebaut. Wenn das mal gut geht.
Illustration: Daniel Balzer
Mirko Heinemann Redaktion

Ist der Groschen nun auch beim letzten Dinosaurier gefallen? Im November kündigte der drittgrößte Energiekonzern Deutschlands RWE „Growing Green“ an, das Programm zur Verdoppelung der Ausbauleistung der erneuerbaren Energien im Konzern. 50 Milliarden Euro will RWE dafür bis 2030 investieren. Growing Green hat einen Urheber: Markus Krebber, 48, hat am 1. Mai den Posten des Vorstandsvorsitzenden übernommen. Krebber: „Mit unserer Investitions- und Wachstumsstrategie ziehen wir das Tempo kräftig an.“


RWE will pro Jahr 2.500 Megawatt erneuerbare Erzeugungsleistung zubauen (bisher 1.500 Megawatt pro Jahr), 2030 sollen es dann insgesamt 50 Gigawatt sein. Wasserstoffkapazitäten in Höhe von 2.000 Megawatt sollen entstehen. Zugleich wird, um eine verlässliche Stromversorgung auch in Zeiten von wenig Sonne und Wind zu gewährleisten, die Leistung der Gaskraftwerke ausgebaut.


Haben die „großen Fünf“, wie die Energieriesen auch genannt werden, die Zeichen der Zeit erkannt? Der größte Versorger Deutschlands, Eon, hat sich zwar aus der Stromproduktion verabschiedet, vertreibt aber massiv grüne Lösungen wie die Solarcloud. Die fossile Stromerzeugung hat Eon 2016 in den neu gegründeten Konzern Uniper ausgelagert. Selbst dort stehen die Zeichen auf Grün: Bis 2030 will der Konzern, verglichen mit dem Jahr 2016, ein Viertel der damaligen Emissionen ausstoßen. Bis 2035 soll die Stromerzeugung in Europa CO2-neutral erfolgen. EnBW setzt auf Windkraft sowie Photovoltaik. Derzeit werden hier knapp 40 Prozent der installierten Leistung gewonnen, Tendenz steigend. Im November erst hat der Konzern nahe Berlin die mit 187 Megawatt größte Photovoltaik-Anlage in Deutschland in Betrieb genommen. Die Nummer Fünf im Bunde, Vattenfall, hat sich gar das Ziel gesetzt, bis 2040 Klimaneutralität über die gesamten Wertschöpfungskette zu gewährleisten.


Das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einfluss der großen Stromerzeuger sinkt. Immer mehr Strom kommt aus privaten Windparks, Dachflächen, Blockheizkraftwerken. Immer mehr grüner Strom im Netz heißt auch: immer mehr Strom im Netz. Autos, die heute Benzin und Öl verbrennen, werden künftig elektrisch fahren. Viele Öl- und Gasheizungen in Gebäuden werden künftig durch elektrische Wärmepumpen ersetzt.


Was das für die Entwicklung des Stromverbrauchs bedeutet, darüber gab es lange Unstimmigkeiten zwischen Politik und Experten. 2018 lag der Bruttostromverbrauch in Deutschland bei 595 Terawattstunden (TWh), das sind 595 Milliarden Kilowattstunden. Nach heftigen Debatten wurde die Prognose für 2030 der Berechnung mehrerer Institute angepasst, die für 2030 in etwa auf einen Wert zwischen 645 bis 665 Twh kamen. Unterstellt werden dabei 14 Millionen Elektro-Pkw, sechs Millionen  Wärmepumpen und 30 Terawattstunden Strom für grünen Wasserstoff. Entsprechend muss der Ausbau der erneuerbaren Energieerzeuger beschleunigt wie auch die Stromnetze für die künftigen hohen Verbräuche ertüchtigt werden.


Die neue Regierungskoalition hat die Strombedarfsprognose für 2030 noch weiter nach oben angepasst. Die neue Koalition rechnet mit einem Bruttostrombedarf von bis zu 750 Terawattstunden pro Jahr, 80 Prozent davon aus erneuerbaren Quellen. Also noch einmal ein Sprung nach oben. Ob das ausreicht, hängt davon ab, wie schnell die Sektorkopplung greift, der Strom also im Verkehr, zur Beheizung von Gebäuden oder in Form von grünem Wasserstoff in der Stahlindustrie zum Einsatz kommt. Und, natürlich, wie schnell die Erneuerbaren Energien ausgebaut werden können. Neben Goodwill im Koalitionsvertrag gehören dazu noch zahlreiche andere Faktoren: Verfügbarkeit von Fläche, Material und Fachkräften – und nicht zuletzt die Akzeptanz in der Bevölkerung für neue Solar- und Windparks.


Mehr grüner Strom heißt aber auch: mehr volatiler Strom. Sowohl seine Erzeugung, die von Faktoren wie Wind und Sonne abhängt, als auch sein Verbrauch wird stärker schwanken als heute: Kälte- und Wärmeerzeugung in Gebäuden, Rechenzentren, elektrische Mobilität, elektrische Hochöfen und Maschinen in der Industrie spielen eine Rolle, dazu kommen Faktoren wie Außentemperaturen, Freizeitaktivitäten, Urlaubszeiten, Pendlerströme.


Vor allem die individuelle elektrische Mobilität hat auf das Stromnetz noch kaum absehbare Auswirkungen. Wie eine intelligente Integration der Elektromobilität in die Stromnetze erfolgen kann, wird derzeit in Feldversuchen erforscht. In München und Düsseldorf sowie in den ländlichen Gegenden Ostbayern, Niedersachsen und Nordhessen kommunizieren Elektrofahrzeuge über Smart-Meter-Gateways mit dem Stromnetz. Ziel ist die Entwicklung von intelligenten Lade- und Energiemanagement-Algorithmen, um Ladezyklen zu optimieren und maximale Stabilität in die Netze zu bringen. Klar ist: Deutlich mehr dezentrale Stromspeicher als heute werden benötigt, um überschüssige Strommengen aufzufangen oder bei Bedarf schnell zur Verfügung zu stellen (siehe auch Seite 14).


Die Übertragungsnetzbetreiber stehen vor großen Herausforderungen, auf die schwankenden Strommengen schnell zu reagieren. Ein eigens installiertes Engpassmanagement sorgt dafür, dass etwa Gaskraftwerke ihre Kapazitäten hochfahren, wenn zu wenig Strom im Netz ist. Damit das möglichst ohne Ausfälle vonstatten geht, wird der Netzbetreiber 50Hertz im Rahmen seines Programms „Redispatch 2.0“ smarte Prognosen miteinbeziehen und so Netzengpässe frühzeitig identifizieren. Maßnahmen gegen mögliche Überlastungen können so bereits im Vorfeld ergriffen werden. Denn nichts wäre schlimmer als ein instabiles Energiesystem – es wäre nicht nur Bestätigung für die lautesten Kritiker der Energiewende, sondern auch ein Schreckgespenst für Industrie und Verbraucher.

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