Der Schlüssel zur Agilität…

...ist der Mensch. Die Digitalisierung ermöglicht flexibles, hybrides Arbeiten und soll Kreativität und damit auch Agilität in den Unternehmen fördern. Doch dafür braucht es mehr als neue, digitale Technologien.

Illustration: Gemma Portella
Illustration: Gemma Portella
Oliver Schonschek Redaktion

Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie und De-Globalisierung (4D): Die deutsche Wirtschaft steht vor großen strukturellen Herausforderungen. Anpassungsfähigkeit und kontinuierliche Verbesserung sind wesentliche Eigenschaften, die erfolgreiche Unternehmen haben müssen. Schnell und effektiv auf Veränderungen zu reagieren und sich kontinuierlich anzupassen – das zeichnet agile Unternehmen aus.

Doch Agilität ist kein Selbstläufer. „Inmitten zunehmender politischer Spannungen sowie vielfältiger externer und interner Komplexitäten ist es eine der größten Herausforderungen für CEOs und Aufsichtsräte, ihre Organisationen agil und auf Fokus zu halten“, erklärt Lars Gollenia, Deutschland-Geschäftsführer von Spencer Stuart, einer Top-Executive-Search-Beratung. Jeder Vierte der in Deutschland Befragten bewertet die Agilität in seinem Unternehmen als nicht ausreichend. Die Antwort auf Herausforderungen und sich ändernde Parameter im Unternehmen sei „träge und mühsam“. 

Die breite Mehrheit der Unternehmen ist sich darüber im Klaren, dass ihre Geschäftsprozesse agiler werden müssen, um mit den sich schnell ändernden Geschäftsanforderungen Schritt zu halten. Um dies zu erreichen, treiben die meisten Unternehmen Initiativen zur digitalen Transformation voran. Der Chemie-Konzern BASF zum Beispiel erkennt große Chancen in der Digitalisierung. Mit neuen digitalen Services erhalten die Kunden mobilen Zugriff auf wichtige Informationen in Echtzeit. In der Supply Chain vernetzt sich BASF mit den Kunden und tauscht logistikrelevante Daten aus. Dadurch könnten die Kunden schneller und besser beliefert werden, so BASF. In der Produktion nutzt BASF gezielt Daten, um den Wartungsbedarf der Produktionsanlagen besser vorherzusagen und steigert dadurch die Anlagenverfügbarkeit.
 

OHNE DIGITALISIERUNG KEINE AGILITÄT


BASF geht damit einen Weg, den viele Unternehmen beschreiten möchten. In der aktuellen Digitalisierungsumfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) geben Unternehmen als Motive für die Digitalisierung vor allem die Flexibilisierung der Arbeit, die Qualitätsverbesserung und die Kosteneinsparung an. Gerade von generativer KI (Künstlicher Intelligenz) versprechen sich die Unternehmen in Deutschland viel. Fast jedes zweite Unternehmen ist laut Bitkom überzeugt, dass KI die Büroarbeit so revolutionieren wird wie die Einführung des PCs. Als größte Vorteile der Technologie bezeichnen jene Unternehmen, die bereits generative KI einsetzen, schnellere und präzisere Problemanalysen sowie beschleunigte Prozesse.

Für thyssenkrupp Steel verspricht der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) eine verbesserte Qualität der Produkte und Zuverlässigkeit der Produktion. Der Big-Data-Ansatz trage auch unmittelbar zur Transparenz bei. „Wir bieten unseren Kunden heute eine nie dagewesene Nachvollziehbarkeit ihrer Bestellungen“, berichtet Volker Lang, Head of Digital Transformation & Innovation, thyssenkrupp Steel Europe AG. „Die detaillierten Einblicke bieten ihnen einen klaren Wettbewerbsvorteil und ermöglichen es, Produktionsprozesse und Qualitäten zu optimieren“. Denn mithilfe von Data Analytics würden sich beispielsweise Materialeigenschaften präziser vorhersagen und Toleranzen genauer treffen lassen.
 

NEUE TECHNOLOGIEN WERDEN DIE ARBEIT STARK VERÄNDERN


Auch die Beschäftigten deutscher Unternehmen teilen die Ansicht, dass KI ihre Arbeit positiv verändern wird. Den größten Vorteil beim KI-Einsatz am Arbeitsplatz sehen Erwerbstätige laut Bitkom-Umfrage darin, dass Unternehmen damit zukunftsfähig bleiben, Arbeitszeit gespart wird und Menschen sich dadurch auf wichtigere Aufgaben konzentrieren können. 

„Künstliche Intelligenz wird endlich von der Mehrheit der Deutschen als Chance zur Unterstützung der eigenen Arbeitswelt begriffen“, berichtet Alexander Rabe, Geschäftsführer von eco – Verband der Internetwirtschaft. „Viele Jobs werden dadurch interessanter, weil mehr Raum für kreative Projekte und sinnstiftende Tätigkeiten bleiben wird. Damit das auch tatsächlich so ist, müssen sich die Unternehmen jedoch bewusst dafür entscheiden und Angebote schaffen“, so Rabe weiter.

Künstliche Intelligenz rein als Möglichkeit zu sehen, die Produktivität insgesamt zu steigern, greife zu kurz. Nur die Effizienz im Blick zu haben, führe letztlich zu einer Arbeitsverdichtung und mehr Stress für die Mitarbeitenden, wenn diese nun mehr Aufgaben in kürzerer Zeit erledigen sollen. „Führungskräfte sollten die Einführung von KI-Anwendungen dazu nutzen, Mitarbeitenden nach Möglichkeit Freiräume zum Experimentieren einzuräumen und dadurch auch die Zufriedenheit im Job zu erhöhen“, so eco-Geschäftsführer Rabe. „Damit Künstliche Intelligenz den größten Nutzen für ein Unternehmen entfaltet, müssen entsprechende Tools planvoll und im Idealfall in Absprache mit den Mitarbeitenden eingeführt werden.“

Michael Nilles, Chief Digital & Information Officer bei Henkel, sieht dies ähnlich: „Generative KI verändert Wirtschaft und Gesellschaft in einem ähnlichen Ausmaß wie das Internet, aber mit Lichtgeschwindigkeit. Wir müssen uns frühzeitig auf diese neuen Technologien einstellen und sie nutzen, um Innovationen voranzutreiben und neue Möglichkeiten für Henkel zu eröffnen“.

In der Vergangenheit waren digitale Marketing-Kampagnen oft auf einige wenige Variationen von Assets und Texten beschränkt, berichtet Henkel. Mit der Unterstützung von generativer KI kann das Henkel-Marketing jetzt Inhalte für verschiedene Kanäle kombinieren und anpassen, sowie die Anzahl an maßgeschneiderten Botschaften erhöhen. Durch den Einsatz generativer KI werde die Erstellung von Inhalten, die sonst Stunden oder Tage in Anspruch nehmen würde, auf Minuten verkürzt.
 

NEW WORK BRAUCHT MEHR ALS KI


Die unter dem Stichwort „New Work“ zusammengefassten neuen Arbeitsmodelle wie agiles Arbeiten, flexible Arbeitsorganisation und neue Führungsmethoden haben bereits gut vier von fünf Industrieunternehmen in Deutschland ganz oder teilweise umgesetzt. Das hat die „TÜV Weiterbildungsstudie 2024“ ergeben. „New-Work-Methoden kommen vor allem in Unternehmen zum Einsatz, die Innovationen vorantreiben, schneller auf Veränderungen reagieren und die Zufriedenheit ihrer Mitarbeitenden verbessern wollen“, erläutert Dr. Joachim Bühler, Geschäftsführer des TÜV-Verbands.

Die Digitalisierung liefert die technische Grundlage für hybrides Arbeiten im Büro, im Homeoffice und andere Formen von New Work. Doch Technologie ist nicht alles. Das Innovationsnetzwerk OFFICE 21 des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO hat untersucht, wie moderne Arbeitsumgebungen zu gestalten sind, die sowohl den technischen Fortschritt als auch die sozialen Bedürfnisse der Mitarbeitenden berücksichtigen. „Der soziale Austausch mit Kolleginnen und Kollegen ist der Hauptgrund, ins Büro zu kommen, sagt Mitja Jurecic, Autor der Studie „Office Analytics 2.0“ im Innovationsnetzwerk OFFICE 21. Offensichtlich ist der KI-Assistent im Homeoffice kein Ersatz für den Austausch mit anderen Menschen.
 

MENSCHEN DENKEN UNTERSCHIEDLICH


„Der größte Fehler, den ein Unternehmen in der aktuellen Situation machen kann, besteht darin, die Bedeutung zu unterschätzen, die den Menschen, den unterschiedlichen Denkweisen und der Kultur bei der Förderung von Agilität zukommt“, warnt Kat Lee, EY Partner, People Advisory Services. „In vielen Unternehmen wächst die Einsicht, dass nicht die Prozesse und Tools der Schlüssel zur Agilität sind, sondern die Mitarbeitenden“, macht Kat Lee deutlich. Viele Unternehmen haben jedoch Schwierigkeiten, auf die notwendigen Ressourcen und Fachkenntnisse zuzugreifen und stehen vor der Herausforderung, Talente für Schlüsseltechnologien der nächsten Generation zu finden und auszubilden.

Illustration: Gemma Portella
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Illustration: Gemma Portella

Wie man sich dieser Herausforderung stellen kann, zeigt zum Beispiel IKEA. Dort hat man sich zum Ziel gesetzt, etwa 30.000 Mitarbeitenden und 500 Führungskräften Schulungen in KI-Kompetenz anzubieten. Parag Parekh, Chief Digital Officer von IKEA Retail (Ingka Group), erklärt: „Unsere Vision ist klar. Es geht darum, die Fähigkeiten der Mitarbeitenden durch Technologie zu verbessern und sicherzustellen, dass IKEA weiterhin der Ort ist, an dem Innovation und Mitgefühl Hand in Hand gehen.“

Die IKEA-Initiative zur Förderung der KI-Kompetenz umfasst eine Reihe von Kursen, die auf die Bedürfnisse von Mitarbeitenden auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Lebensbereichen innerhalb der Organisation zugeschnitten sind. Diese reichen von KI-Grundlagen, die allen Mitarbeitenden zur Verfügung stehen, bis hin zu Spezialschulungen wie „Responsible AI“ und „Mastering Gen AI“ sowie „Algorithmic Training for Ethics“. Ziel ist es, ein tiefes Verständnis für KI in der gesamten Organisation zu verankern.
 

DIE DIGITALISIERUNG BENÖTIGT SELBST MEHR AGILITÄT


Unternehmen, die durch Digitalisierung ihre Agilität steigern möchten, dürfen also den Menschen nicht vergessen. Die Digitalisierung allein macht nicht agiler, sie kann sogar zusätzliche Herausforderungen schaffen, die die Unternehmen ausbremsen. Die Reality Check 2025 Survey der Software AG zeigt, dass 84 Prozent der Unternehmen ihre technologische Infrastruktur in den letzten Jahren deutlich erweitert haben. Gleichzeitig geben 77 Prozent der Befragten an, dass diese Entwicklung die Agilität und Produktivität ihres Unternehmens erschwert. 

Steve Ponting, Director bei der Software AG, kommentiert die Ergebnisse: „Die Praxis und unsere Studie zeigen, dass Unternehmen mit vielfältigen Anforderungen konfrontiert sind und unter einem enormen Leistungsdruck stehen. Und je mehr neue Technologien auftauchen, um zu ‚helfen‘, desto größer ist das Potenzial für operatives Chaos.“ 

Laut Gartner-Studien erreichen oder übertreffen nur 48 Prozent der digitalen Initiativen ihre Geschäftsziele. Dieses Defizit sei häufig auf isolierte Bemühungen und mangelnde Abstimmung zwischen IT- und Unternehmensleitung zurückzuführen. Gemeinsame Teams aus den Business-Bereichen und der IT, bei Gartner Fusion-Teams genannt, schließen demnach diese Lücke, indem sie es Geschäftsbereichen erleichtern, gemeinsam mit der IT digitale Lösungen zu entwickeln.

Sowohl die digitale als auch die agile Transformation müssen demnach alle Ebenen im Unternehmen durchdringen, Geschäftsleitung, Fachbereiche und IT, und neben der Technologie immer auch die Prozesse und den Menschen einbeziehen.

Die Gartner-Analystin Kristin Moyer beschreibt dies so: „Vermitteln Sie Agilität als entscheidenden Wert, wenn Sie das digitale Geschäft beschleunigen möchten. Organisationen, die Agilität anstreben, müssen auch die Entscheidungsfindung beschleunigen, die Arbeit vereinfachen und unnötige Aufgaben eliminieren.“

Erwarten Unternehmen ein Mehr an Agilität allein aus der Nutzung digitaler Technologien, stimmen oftmals die Prioritäten der Transformation nicht mit den Unternehmenszielen überein, die Veränderungen enden an den Grenzen der „Silos“ innerhalb des Unternehmens, folgen IT-Zielen und nicht Geschäftszielen. Anstatt schnell auf Veränderungen zu reagieren, sich flexibel auf neue Bedingungen einzustellen, die Kundenbedürfnisse wahrzunehmen und proaktiv zu denken und zu handeln, verstricken sich Unternehmen dann in einem technologischen und operativen Chaos, wie es der Reality Check 2025 Survey der Software AG nennt.

Falsch verstandene Digitalisierung kann also zu dem Gegenteil von Agilität führen. Nur wer die digitale Transformation agil versteht und angeht, kann die Agilität im Unternehmen erhöhen. Ohne Digitalisierung können Unternehmen die notwendige Agilität nicht erreichen, aber ohne Agilität ist Digitalisierung nicht erfolgreich. Agilität und Digitalisierung bedingen einander, sie müssen beide die obersten Plätze auf der Agenda der Unternehmen in schwierigen Zeiten einnehmen.
 

DIGITALE AGILITÄT UND AGILE DIGITALISIERUNG


Wird auf notwendige Veränderungen schnell und proaktiv reagiert, indem die Geschäftsleitung und die Business-Bereiche der IT ihren konkreten Bedarf für die Anpassungen in Prozessen und Geschäftsmodellen nennen, kann die Digitalisierung die Wertschöpfungskette optimieren, sie schneller und kreativer werden lassen. 

Mögliche Störungen in der Lieferkette werden frühzeitig prognostiziert, der Verbrauch an Energie und anderen Ressourcen an den tatsächlichen Bedarf angepasst, Kundenwünsche fließen rechtzeitig in die Entwicklung ein, Mitarbeitende können zeitlich und räumlich ungebunden in modernen Projekten arbeiten, die innovative Werkzeuge wie KI nutzen. Die Einarbeitung neuer Beschäftigter kann gezielt und individuell stattfinden, passend zu den Fähigkeiten und Wünschen der Mitarbeitenden und passend zu dem Bedarf, der sich in den Projekten abzeichnet. 

Eine agile Digitalisierung, die flexibel und vorausschauend gestaltet wird, liefert notwendige Antworten auf Fragen der Dekarbonisierung, Demografie und De-Globalisierung. Ohne Agilität jedoch ist die Digitalisierung nicht Lösung für die Herausforderungen, sondern sie bleibt ein Teil der Herausforderungen, von den sogenannten „4Ds“, die eine Transformation in den Unternehmen erforderlich machen.

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