Wo ist der Zugang zur Männerwelt?

In der Welt der Wissenschaft und Technik sind bis heute Frauen in einer kleinen Minderheit. Dabei ist Deutschland auf weibliche Innovationskraft angewiesen.

Illustration: Emanuela Carnevale
Illustration: Emanuela Carnevale
Johanna Stein Redaktion

Seit der Antike rätseln Forschende, wie aus befruchteten Eizellen komplexe Tiergestalten wie der Mensch entstehen können. Am Anfang erhalten alle Zellen eines Organismus die gleichen Erbinformationen. Trotzdem entwickeln sich daraus unterschiedliche Bauteile wie Organe, Augen und Beine. Auch die Biologin Christiane Nüsslein-Volhard ging dieser Frage nach. Um dem Phänomen auf die Spur zu kommen, beobachtete sie Fliegen im Labor. Ihre Entdeckung: Die Fliegenmutter versieht jede Eizelle mit vier Substanzen. Diese bestimmen, wo beim Tier oben, unten, vorne und hinten ist, so landet alles am richtigen Fleck. Mit ihrer Arbeit hat Nüsslein-Volhard ein großes Rätsel der Genforschung gelöst. Ihre Forschung hilft, Krankheiten besser zu verstehen. Im Jahr 1995 erhielt sie dafür den Nobelpreis für Medizin. 

Solche Erfolgsgeschichten wie die von Nüsslein-Volhard sind selten. „Es ist anstrengend, eine Ausnahme, die Erste, die Einzige zu sein“, sagte die Biologin einmal. Seitdem sind viele Jahre vergangen, geändert hat sich jedoch wenig. Auch heute sind Frauen in den klassischen MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik unterrepräsentiert. Seit dem Jahr 1901 haben 943 Forschende einen Nobelpreis gewonnen – nur 58 von ihnen waren Frauen. Das sind gerade einmal sechs Prozent. Auch bei Patentanmeldungen liegen Frauen weit zurück: Nur jeder zehnte Patentantrag in Deutschland stammt von einer Frau, europaweit sieht es kaum besser aus.

Der Mangel an Wissenschaftlerinnen macht sich in Deutschland bemerkbar. Denn die Bundesrepublik macht kaum Fortschritte bei ihrer Innovationsfähigkeit. Beim aktuellen Innovationsindikator des Bundesverbands der Deutschen Industrie und der Unternehmensberatung Roland Berger liegt Deutschland auf Platz zehn von 35, und damit weit hinter den erstplatzierten kleineren Volkswirtschaften Schweiz, Singapur und Dänemark. Ein Grund: Hierzulande fehlen mehr als 300.000 MINT-Fachkräfte, zeigt eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft. Frauen könnten helfen, die Lücke zu füllen, doch wie lassen sich Mädchen und junge Frauen für die Wissenschaft begeistern?

„Kinder werden bereits in jungen Jahren mit Rollenbildern sozialisiert“, sagt Wilfred Uunk, Professor für Soziologie an der Universität Innsbruck. Uunk forscht zu Geschlechterunterschieden auf dem Arbeitsmarkt und ist sicher: Traditionelle Erziehung wirkt sich stark auf die weitere Laufbahn der Kinder aus. Klischees wie „Jungen spielen häufiger mit Autos, Mädchen mit Puppen“ haben reale Konsequenzen. Dass Mädchen in Mathematik fast genauso gut sind wie Jungen, tritt häufig in den Hintergrund, weil Mädchen in Fächern wie Deutsch deutlich besser abschneiden als Jungen. So werden sie eher als Deutsch-Ass wahrgenommen und nicht als Mathe-Ass – weil es dem Klischee entspricht. „Die Sozialisation beeinflusst auch die Selbsteinschätzung von Mädchen in MINT-Fächern“, sagt der Forscher. Das heißt: Bei gleicher Leistung schätzen sich Mädchen im Durchschnitt schlechter ein als Jungen.

Trotzdem ist Uunk zuversichtlich und hofft, dass mehr Frauen in die Wissenschaft kommen. Er hat auch Vorschläge, wie das klappen könnte: „Konzerne müssen eine Frauenquote für MINT-Bereiche einführen.“ Das habe sich bereits bewährt. „Wenn es mehr Frauen in MINT-Berufen gibt, können sie existierende Rollenbilder allmählich ändern“, erklärt der Professor. Die Deutsche Telekom, Deutschlands größtes Telekommunikationsunternehmen, hat im Jahr 2010 als erstes DAX-Unternehmen eine unternehmensinterne Frauenquote eingeführt. Seit 2016 gibt es in Deutschland auch ein Gesetz, das eine Frauenquote für Führungspositionen vorschreibt: 30 Prozent der Aufsichtsräte von börsennotierten und paritätisch mitbestimmten Unternehmen müssen weiblich sein, egal in welcher Branche. Das stärkt Frauen in Vorbild- und Führungspositionen, auch im MINT-Bereich.

Der Geschlechterunterschied zieht sich von den Schulen bis hin zu den Hochschulen: Obwohl in den vergangenen Jahren mehr Frauen als Männer ein Studium begonnen haben, lag der Frauenanteil in den MINT-Fächern nur bei 30 bis 40 Prozent. 

„Die typischen Studiengänge und Ausbildungen für Forschende sind immer noch männlich geprägt“, sagt Arbeitsmarktforscher Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Auch hier fehle es – wie in der Industrie – an weiblichen Vorbildern. Dieses Problem ist den Hochschulen bewusst. Viele haben deshalb Projekte gestartet, die gezielt Frauen für MINT-Studiengänge begeistern sollen. Die TU Dresden versucht beispielsweise, weibliche Vorbilder in den Vordergrund zu rücken, indem sie ihnen Ausstellungen und Ortsnamen widmet. So gibt es in Dresden neuerdings einen Johanna-Weinmeister-Campus – benannt nach der ersten Frau, die an der TU Dresden 1913 ihren Abschluss erlangte.

Ein anderes Problem, das Frauen von der Wissenschaft fernhält, ist rein praktischer Natur: „Frauen wählen häufig Berufe und Stellen mit mehr Sicherheit, die weniger auf Wettbewerb und Innovation ausgerichtet sind“, sagt Arbeitsmarktforscher Weber. „Erstens knicken Karrieren von Frauen in der Kinderphase oft ab“, erklärt er. „Dadurch können sich Frauen schwerer in Forschungsfeldern etablieren.“ Zweitens bieten Hochschulkarrieren kaum Sicherheit: Von den Nachwuchs-Akademikerinnen an Hochschulen unter 35 Jahren sind 98 Prozent befristet angestellt, ergab der Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs aus dem Jahr 2021.

Um die Wissenschaft für Frauen attraktiver zu gestalten, müssen also einige Akteure aktiv werden: Hochschulen, Unternehmen, die Politik. Große Hoffnung ruht auf der bundesweiten Initiative „Komm, mach MINT“, die das Bildungsministerium im Jahr 2008 ins Leben gerufen hat. Es handelt sich dabei um einen Pakt zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Verbänden, Sozialpartnern und öffentlichen Institutionen. Ziel ist es, das Bild von MINT-Berufen in der Gesellschaft zu verändern und Frauen Chancen in dieser Branche aufzuzeigen. Die Initiative bietet deutschlandweit Anregungen zu Aktivitäten für Schülerinnen, Studentinnen und Frauen, die bereits im MINT-Bereich tätig sind, sowie Informationen zu weiteren Programmen. 

Auch Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard wollte nicht länger eine Ausnahme bleiben und ist das Problem angegangen. Im Jahr 2004 hat sie eine Stiftung ins Leben gerufen, die jungen Wissenschaftlerinnen mit Kindern hilft, Beruf und Karriere unter einen Hut zu bekommen. Sie erhalten Hilfe im Haushalt und bei der Kinderbetreuung und haben dadurch mehr Zeit, im Labor an Innovationen zu tüfteln.

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Alexander Krutzek ist seit 2008 CEO des Familienunternehmens Finder.
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