Talent für Technik

Es gibt sie noch, die Hidden Champions, deren Produkte und Lösungen von Deutschland aus die Welt erobern. Ihre Stärken: Mut und technischer Sachverstand.

Illustration: Emanuela Carnevale
Illustration: Emanuela Carnevale
Julia Thiem Redaktion

Es ist eine dieser deutschen Erfolgsgeschichten, die kaum einer kennt: Im Sommer 1972 war Manfred Bogdahn mit seiner Hündin Purzel – sie wird als extrem quirliges Exemplar beschrieben – in Hamburg spazieren, als ihm eine Eingebung kam: eine lange, sich selbst aufrollende Leine, die dem Hund Bewegungsfreiraum und ihm als Halter trotzdem Kontrolle ermöglicht. Die „Flexileine“ war geboren. Und auch wenn die Meinungen zu dieser deutschen Erfindung stark auseinandergehen – die einen lieben sie, die anderen hassen sie – ist die Leine der flexi-Bogdahn International GmbH & Co. KG aus Bargteheide in Schleswig-Holstein ein echter Exportschlager. Das Unternehmen ist in über 90 Ländern der Welt Marktführer und fährt damit einen geschätzten Jahresumsatz von 50 Millionen Euro ein. Ein echter „Hidden Champion“ also. 

Hidden Champion ist ein Begriff, den der Wirtschaftsprofessor und Unternehmensberater Hermann Simon Mitte der Achtziger kreiert hat. Nach seiner Definition sind damit mittelständische Unternehmen gemeint, die zu den jeweils wichtigsten in ihrem Marktsegment auf dem Weltmarkt gehören, weniger als fünf Milliarden Euro Jahresumsatz haben und einer breiten Öffentlichkeit nur selten bekannt sind. Von den knapp 4.000 Hidden Champions, die Simon weltweit identifiziert hat, stammen etwa 1.600 aus Deutschland.

Die Flexileine ist dabei ein klassisches Beispiel der deutschen Tüftler- und Ingenieurskultur. Es gibt jedoch auch viele Hidden Champions im Mittelstand, die sich auf neue Technologien, Automatisierung, Digitalisierung oder Künstliche Intelligenz spezialisiert haben.

 

VON BADEN-WÜRTTEMBERG IN DIE WELT

Ein solches Beispiel aus der Industrie ist das Esslinger Familienunternehmen Festo mit einem beachtlichen Jahresumsatz von knapp vier Milliarden Euro und über 20.000 Beschäftigten weltweit. Das Unternehmen ist auf Automatisierungstechnik sowie Lernsysteme und Training spezialisiert. Über 300.000 Industriekunden in 176 Ländern setzen bei ihrer Automation oder Themen wie der Industrie 4.0 auf die Lösungen aus Esslingen. Nach eigenen Angaben fließen bei Festo rund sieben Prozent des Umsatzes in Forschung und Entwicklung – ein vergleichsweise hoher Wert. Laut des Statistikportals Statista flossen 2021 in der Automobilindustrie nur 4,9 Prozent des Jahresumsatzes in Forschung und Entwicklung, Industrieunternehmen investieren sogar nur 2,5 Prozent wieder in neue Innovationen. Spitzenreiter ist die Gesundheitsbranche mit 12,4 Prozent. 

Eines der Vorzeigeprojekte, an denen man bei Festo in den vergangenen zwei Jahren gemeinsam mit dem Karlsruher Institut für Technologie und weiteren kanadischen Partnern gearbeitet hat, ist Flairdrop – Federated Learning for Robot Picking. Bei dem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderten Forschungsprojekt ging es darum, Kommissionierroboter mithilfe von KI-Methoden intelligenter zu machen. Das sind Maschinen, die für die automatische und programmierte Zusammenstellung von Aufträgen zuständig sind. Je nach Aufgabe können das Roboterarme sein, die Waren sortieren, oder automatisierte Lager- und Transportsysteme. 

Das Ziel von FlairDrop: das gegenseitige Lernen der Roboter zu fördern und gleichzeitig den Datenschutz zu wahren. Das gelang dem Forscherteam, in dem die Roboter zunächst lokal trainiert und diese trainierten Modelle dann an einen zentralen Server für maschinelles Lernen gesendet wurden. Die Trainingsdaten mussten den Datenanbieter somit nicht verlassen. Gleichzeitig gibt es keine Datensilos bei diesem föderierten Lernen, weil es Modelle aggregiert und damit eine hochpräzise und datengesteuerte Vorhersage der Objekterkennung und der Greifpunkte ermöglicht. Das Forschungsprojekt sei erfolgreich verlaufen. Jetzt ginge es darum, die Ergebnisse in die Praxis zu bringen, sagt Jan Seyler, Leiter Advanced Development Analytics and Control bei Festo: „Die Forschungsergebnisse werden nun veröffentlicht und können von allen Interessierten frei in ersten Pilotprojekten genutzt werden.“

Es ist jedoch nicht nur Baden-Württemberg, das internationale Exportschlager in seinen vielen Tälern „versteckt“. In Grafschaft, einer kleinen verbandsfreien Gemeinde im Landkreis Ahrweiler in der Nähe von Bonn, hat die MK Technology GmbH ihren Sitz. 1997 vom Maschinenbauer Michael Kügelgen gegründet, beschäftigt sich das Unternehmen mit dem Bau schneller Prototypen sowie mit Sondermaschinen für den Feinguss für Raum- und Luftfahrt, Automobilindustrie oder den Rennsport. In einer Reportage des SWR sagt Kügelgen über den Erfolg von MK Technology: „Man muss sich an Sachen rantrauen, von denen man im ersten Moment denkt, das kann gar nicht funktionieren.“ So ist auch Space X, das Unternehmen von Milliardär Elon Musk, auf Kügelgen und sein Unternehmen aufmerksam geworden. Denn Musks ursprünglicher Plan, Komponenten für Marsraketen mit einem 3D-Metalldrucker zu produzieren, hat sich als nicht durchführbar erwiesen. Mittlerweile beliefert MK Technology Space X mit hochkomplexen Brennkammern für die Raketen. Neun Millionen Euro stehen aktuell in der Bilanz von MK Technology, die mit überschaubaren 25 Mitarbeitern erwirtschaftet werden. 

»MK Technology aus Ahrweiler beliefert Space X mit hochkomplexen Raketen-Brennkammern.«

Es dürfte spannend zu beobachten sein, welche Innovationen Kügelgen und sein Team noch hervorbringen. 2021 hat er auf der European Rotors in Köln gemeinsam dem Physiker Thomas Senkel, Gründer von Velocopter, die eMagic One präsentiert. Mehrere Jahre Entwicklungsarbeit stecken in dem elektrisch angetriebenen Einsitzer, der die Eigenschaften eines Flächenflugzeugs mit einem Senkrechtstarter verbindet.

 

DIE ZUKUNFT GEHÖRT DEN MUTIGEN 

Was die Beispiele eindrucksvoll zeigen: Der Weg in Richtung Zukunft erfordern Mut, Neugier und verläuft abseits von ausgetretenen Pfaden. Und es ist auch eine Frage der Investitionsbereitschaft. Der Stifterverband rechnet vor, dass Deutschland 2021 3,14 Prozent seines BIP in Forschung und Entwicklung investiert hat – ein Großteil davon stemmt die Wirtschaft mit 2,1 Prozent, Hochschulen und Staat kommen gemeinsam auf 1,04 Prozent. Das sei zwar ein leichter Anstieg gegenüber dem Vorjahr, bleibt aber hinter dem eigentlich gesetzten Ziel von 3,5 Prozent zurück. Weiter heißt es in dem Report: „Deutschland gehört hinsichtlich der F&E-Intensität zwar zu den starken Ländern, aber nicht zur Spitzengruppe. Diese wird etwa von Ländern wie Südkorea, Israel und Schweden gebildet, die bereits F&E-Intensitäten von 3,5 Prozent und mehr erreicht haben.“

Dass mehr für eine lebendige Innovationskultur in Deutschland getan werden muss, unterstreicht auch die Expertenkommission Forschung und Innovation, EFI, in ihrem aktuellen Jahresgutachten, das Anfang 2023 an Bundeskanzler Olaf Scholz übergeben wurde. Dort wird vor allem der Datenschutz als Bremse identifiziert. „Die Bundesregierung sollte ihre geplante nationale Datenstrategie nutzen, um den Zustand der Unsicherheit durch klare und einfache Regelungen zu beenden. Ganz zentral ist dabei eine harmonisierte Auslegung der Datenschutzregelungen über alle Bundesländer hinweg“, fordert Prof. Dr. Irene Bertschek, Leiterin des Forschungsbereichs „Digitale Ökonomie“ am ZEW Mannheim und stellvertretende EFI-Kommissionsvorsitzende.

Insgesamt betont das EFI-Gutachten, dass der Druck zur Reformierung der Rahmenbedingungen für Forschung und Innovationen kontinuierlich steigt. „Lange Zeit haben wir es uns in Deutschland erlaubt, Reformbedarfe im F&I-System mittels Ausgleichszahlungen und Schaffung von teuren Parallelstrukturen auszusitzen. Wenn wir ein attraktiver Forschungsstandort bleiben wollen, müssen wir davon wegkommen“, sagt Bertschek.

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