Stoff der Träume

Bis grüner Wasserstoff einen reellen Beitrag zur Dekarbonisierung der Industrie leisten kann, wird noch viel Wind wehen müssen. Aber der Grundstein ist gelegt.

Illustrationen: Anna Zaretskaya
Illustrationen: Anna Zaretskaya
Mirko Heinemann Redaktion

„Wasserstoff ist die Kohle des 21. Jahrhunderts“, schrieb Jules Verne vor 125 Jahren. Den Satz könnte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sicher unterschreiben. Den Höhepunkt seiner bisherigen Amtzeit erlebte er wohl im August dieses Jahres, als er, gemeinsam mit Kanzler Olaf Scholz, nach Kanada reiste. Habeck unterzeichnete ein Abkommen, das zum Export von Wasserstoff führen soll. Danach soll auf der vorgelagerten Insel Neufundland ein Windpark entstehen, in dem der Strom direkt in Wasserstoff umgewandelt werden soll. Dieser Wasserstoff soll anschließend auf Schiffe verladen und exportiert werden – vor allem nach Deutschland. 2025 soll es losgehen.

 

Wasserstoff aus Wilhelmshaven


 

Im selben Jahr soll in Deutschland dann auch das erste Wasserstoff-Terminal für grünes Gas in Betrieb genommen werden. Betreiber ist das Unternehmen TES gemeinsam mit den Energieversorgern E.ON und Engie. Geplanter Standort ist Wilhelmshaven, wo bereits im kommenden Winter das erste schwimmende Terminal für LNG, verflüssigtes Erdgas, in Betrieb gehen soll. Die Gase werden von staatlich gemieteten Spezialschiffen empfangen und über eine sogenannte Floating Storage and Regasification Unit (FSRU) für die Einspeisung ins deutsche Gasnetz aufbereitet.

Das erste Wasserstoff-Terminal Deutschlands wird die fünfte staatliche FSRU sein – nach Wilhelmshaven I (Erdgas), Brunsbüttel, Stade und Lubmin, jede davon mit einer Kapazität von je mindestens 5 Milliarden Kubikmeter LNG pro Jahr, womit alle zusammen etwa ein Drittel des heutigen deutschen Gas-Bedarfs decken könnten.

Dass grüner Wasserstoff ein „wichtiger Schlüssel für eine klimaneutrale Wirtschaft ist“, wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in Kanada sagte, liegt vor allem an dessen Vielfalt in der Nutzung. In der Stahlproduktion lassen sich mit dem grünen Wasserstoff sogenannte Direktreduktionsanlagen betreiben. Hier entsteht kein flüssiges Roheisen mehr, sondern ein fester Eisenschwamm, der in einem sogenannten Elektrolichtbogenofen zu Rohstahl veredelt wird.

Die Direktreduktion von Eisenerz ist keineswegs Neuland, so der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft BDEW. Auf reiner Erdgasbasis werde die Technik bereits seit Längerem angewendet – insbesondere in Ländern, in denen Erdgas ausreichend und günstig zur Verfügung steht. Auf diese Weise wird weniger CO2 als im traditionellen Hochofenprozess mit Kohle freigesetzt. Klimaneutral jedoch wird die Produktion erst dann, wenn statt Erdgas grüner Wasserstoff eingesetzt wird.

 

Grün, grau, blau, türkis


 

Der wird mit regenerativen Energien, etwa aus Wasser- und Windkraft oder Photovoltaik, hergestellt, vorrangig im Elektrolyseverfahren. Dabei spaltet man Wassermoleküle in die beiden Elemente Wasserstoff und Sauerstoff auf. Findet bei der Wasserelektrolyse ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien Anwendung, dann gilt der auf diese Weise produzierte Wasserstoff als frei von Kohlenstoffdioxid und somit als grüner Wasserstoff. Abzugrenzen ist der grüne Wasserstoff von „grauem“, „blauem“ und „türkisem“ Wasserstoff, bei deren Herstellung CO2 anfällt. Für grauen und blauen Wasserstoff wird Erdgas in Wasserstoff und Kohlendioxid umgewandelt (der bei „blauem“ in Tanks oder unter der Erde eingelagert wird), für türkisen im Rahmem einer thermischen Spaltung von Methan oder Erdgas fällt ebenfalls CO2 an, allerdings in fester Form, der einfacher gelagert werden kann.

Ein anderes Anwendungsbeispiel ist die Brennstoffzelle. Brennstoffzellen sind mobil und wandeln Wasserstoff in Strom um. In der Brennstoffzelle reagiert Wasserstoff zusammen mit Sauerstoff aus der Luft. Dabei entstehen Wasser, Strom und Wärme. Diese elektrochemische Reaktion wird auch als „kalte Verbrennung“ bezeichnet – im Unterschied zur Verbrennung, durch die Motoren oder Turbinen Energie erzeugen. Durch das direkte Umwandeln von Energie nutzen Brennstoffzellen den Energiegehalt des eingesetzten Brennstoffs fast vollständig.

 

Brennstoffzelle: besser als Batterien?


 

Die elektrochemische Energieumwandlung hat noch weitere Vorteile gegenüber der Verbrennung: Die meisten Brennstoffzellen arbeiten vor Ort praktisch schadstofffrei, da sie nur Wasserdampf produzieren. Außerdem machen Brennstoffzellen bewegliche Teile weitgehend überflüssig, damit sind sie verschleiß- und wartungsarm.

Brennstoffzellen eignen sich etwa als Antrieb für bislang dieselgetriebene Schwerlastfahrzeuge, für Schiffe, Züge und schwere LKW. Auch immer mehr PKW-Hersteller überlegen angesichts der steigenden globalen Nachfrage nach Lithium und Kobalt, ob die Brennstoffzelle nicht der bessere Akkumulator ist. Batterien haben den Nachteil, dass sie schwer sind und lange Ladezeiten haben. Wasserstoff kann man an der Tankstelle schnell wie Erdgas tanken.

Wie der Wasserstoff im Land verteilt wird, ist nicht ausgemacht. In bestehenden Erdgaspipelines kann Wasserstoff allenfalls beigemischt werden. Die Spedition VTG hat bereits angeboten, Wasserstoff per LKW in speziellen Kesselwagen und Tankcontainern zu transportieren. Auch die Deutsche Bahn hat sich als Lieferant für große Mengen Wasserstoff für die Industrie ins Spiel gebracht. In den bestehenden Kesselwagen der Güterbahn könnte er von den Seehäfen ins Hinterland transportiert werden. Da der Transport auf der Schiene nicht nur umweltfeundlicher, sondern auch sicherer vonstatten gehen könnte als auf der Straße, hätte dieser Transportweg sicherlich seinen Reiz.

Das Wasserstoff-Sommermärchen endete abrupt in den Niederungen der deutschen Energiekrise, als Russland beschloss, die Erdgaslieferungen über North Stream 1 unter Verweis auf angeblich fehlende Ersatzteile einzustellen. Jetzt geht es um den nächsten Winter, darum, dass es in den Häusern warm wird und dass die Industrie am Laufen bleibt. Erdgas ist der Stoff, den Wirtschaft und Verbraucher jetzt dringend brauchen. Wasserstoff ist vorerst der Stoff, aus dem nur Träume sind.

 

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Alexander Krutzek ist seit 2008 CEO des Familienunternehmens Finder.
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