Sprung nach vorn

Der digitale Umbruch, unerwartete Ereignisse und permanente Vorläufigkeit fegen fast alle vertrauten Spielregeln der Marktwirtschaft hinweg. „Übermorgengestalter“ sind ein Ausweg aus diesem Dilemma. Ein Gastbeitrag.

Illustration: Anna Zaretskaya
Illustration: Anna Zaretskaya
Anne M. Schüller Redaktion

Für die Zukunft können wir aus den Wirtschaftsannalen einiges lernen. So löste einst auf den Weltmeeren das Dampfschiff das Segelschiff ab. Kein einziger Hersteller von Segelschiffen meisterte diesen Technologiesprung. Ganz im Gegenteil: Die Alteingesessenen versuchten, der neuen Antriebskraft mit mehr Segeln Paroli zu bieten, statt die Sache ganz und gar neu anzugehen. Und das ist fast überall so. Die Glühbirne wurde nicht von einem Kerzenhersteller, das Auto nicht von einem Postkutschenbauer und das internetbasierte Bezahlen nicht von einer Bank erfunden.

Wieso das passiert? Der etablierte Anbieter ist Experte für eine Technologie, sagen wir Segelschiffe. In seinem Unternehmen arbeiten lauter Segelschiffbau-Experten, jedoch kein einziges Talent für den Antrieb mit Dampf. Wird dieser Anbieter nun angegriffen, verstärkt er seine Anstrengungen in seiner Kernkompetenz, wird also mehr vom Alten noch besser machen, weil es das Einzige ist, was er kann. Zudem wird er die Stärken des Neuen herunterspielen, weil er sie selbst nicht hat – oder, schlimmer noch, weil er sie nicht mal als solche erkennt.
Alteingesessene lachen über Nokia und merken nicht, dass sie selbst zum nächsten „Nokia“ werden. Selbstherrlich wird das „junge Gemüse“ mit Zynismus bedacht. So wurde Elon Musk von Ex-Siemens-CEO Joe Kaeser einst als Kiffer bezeichnet, der von Peterchens Mondfahrt träume. Doch siehe da: Längst führt Musks Firma SpaceX kommerzielle Flüge ins Weltall durch. Die benötigten Raketenstufen kommen heil zur Erde zurück und sind wiederverwendbar – etwas, das nicht mal der NASA gelang.

Die Denke der Innovationstreiber im Markt
 

Die Disruptoren der Wirtschaft begeben sich erst gar nicht auf Aufholjagd. Sie versuchen auch nicht, alte Technologien aufzupeppen. Sie überspringen sie einfach. Herkömmliche Branchengesetze sind ihnen komplett egal. Gewohntes wird radikal infrage gestellt. Mutig und forsch kreieren sie die Dinge völlig anders und neu. Dabei entstehen Innovationen, die die Welt so umfassend verändern wie niemals zuvor. Mit Nischengespür ergreifen sie jede Chance, die sich durch die voranschreitende Digitalisierung ergibt.

Ständig auf der Suche nach unkonventionellen Ideen erkennen Disruptoren Potenziale blitzschnell, können Marktdifferenzen rasch identifizieren und Lösungen neu kombinieren. Sie sind Zukunftsversteher. Und Transformationsexperten per se. Einfallsreich und dynamisch vernetzen sie die virtuelle mit der realen Welt auf immer neue, bahnbrechende Weise. So haben sie, von tradierten Modellen gänzlich entkoppelt, längst eine Parallelwelt erschaffen, die sich der Old Economy, wenn überhaupt, höchstens ansatzweise erschließt.

Anne M. Schüller  
Anne M. Schüller

Wer zögernd wartet, wird rasch weginnoviert
 

Zukunftsversteher verstehen: Geopolitische Aktivitäten, Unwägbarkeiten verschiedenster Art und Kaliber, der sich dramatisierende Klimawandel wie auch die Neukombination bislang getrennter Technologien und Industrien sorgen für vielerlei Wechselwirkungen, die sich im Vorfeld gar nicht absehen lassen. Jede technologische Verbesserung führt zudem dazu, dass die nächste Verbesserung rascher erreicht werden kann. In einem derart unvorhersehbaren Umfeld ist es unmöglich, im Voraus zu wissen, was funktionieren wird und was nicht. Wer aber zögerlich wartet, wie sich das Ganze entwickelt, wird nicht schnell genug sein, um die Vorsprünge Anderer einzuholen.

Die systematische Suche nach zukünftigen Wachstumsfeldern kann gar nicht früh genug beginnen. Das lässt sich nicht in eine Abteilung wegdelegieren. Innovationsgeist muss vielmehr das ganze Unternehmen durchfluten. Denn permanente Vorläufigkeit ist die neue Normalität. Dies führt zu fortlaufenden Innovationsnotwendigkeiten und iterativen Wandlungsprozessen, die zunehmend aus der Mitte der Unternehmen heraus entstehen. Eine firmeninterne interdisziplinäre Avantgarde von Pionieren, Innovatoren und Übermorgengestaltern sollte dabei voranmarschieren. Genau das ist die wichtigste Taktik in den Organisationen, die den Sprung nach vorn schaffen wollen.

Mit Übermorgengestaltern Neuland erobern


Die Zukunft liegt in den Händen unkonventioneller Ideengeber, die mit jungem, wildem, multiperspektivischem Denken und quirligem, kühnem Tun die entscheidenden Umbrüche wagen. Als Aus-der-Reihe-Tänzer, Um-die-Ecke-Denker und Über-den-Tellerrand-Schauer sind sie die treibende Kraft, damit das notwendige Neue entsteht.
Leider weht dem Neuartigen oft eine steife Brise entgegen. Früher landeten viele, die Altbewährtes infrage stellten und durch disruptiv Neues ersetzten, in der Verbannung, am Galgen oder auf dem Schafott. Selbst heute erfährt das ganz und gar Neue gefährlich oft den erbitterten Widerstand der Nutznießer des Alten. Verlustaversion, Besitzstandswahrung und Ausbremseritis sind in der Wirtschaft weit verbreitet.

Deshalb die entscheidende Frage: Wie viele Neudenker und Andersmacher kann und will Ihre Organisation denn tatsächlich verkraften? Wie viel Experimentierraum bekommen sie wirklich? Und werden sie vom Recruiting überhaupt systematisch gesucht? Übermorgengestalter:innen sind eine Investition in die Zukunft. Als Early Adopter und Vorwärtsstürmer wagen sie sich zielstrebig dorthin, wo Neuland beginnt. Vorne ist da, wo noch niemand sich auskennt und wo man erst einen Weg finden muss. Die meisten Chancen gibt es auf unbekanntem Terrain. Und ja, natürlich, dabei kann man sich auch verlaufen. Doch wer sich nie verirrt, findet auch keine neuen Wege. Und nur, wer Risiken eingeht, kann Entdeckungen machen.

Anne M. Schüller 

ist Managementdenkerin, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung. Ihr aktuelles Buch heißt „Bahn frei für Übermorgengestalter. 25 Quick Wins für Innovatoren und Zukunftsversteher“ (Gabal 2022, 24,90 Euro).
www.anneschueller.de

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