Mobilitätsmix für jeden Bedarf

Die Verkehrswende muss jetzt endlich Fahrt aufnehmen. Die Ideen reichen vom elektrifizierten Individualverkehr über Vehicle-Sharing bis hin zu vernetzten Konzepten.

Illustration: Anna Zaretskaya
Illustration: Anna Zaretskaya
Lars Klaaßen Redaktion

Würden alle 83 Millionen Menschen, die gegenwärtig in Deutschland leben, gleichzeitig mit einem hiesigen Auto irgendwohin fahren wollen, müsste niemand hinten sitzen, alle fänden auf einem Vordersitz Platz: Aktuell sind 48 Millionen Pkw in Deutschland zugelassen. Es werden jährlich mehr. Als Autokorso würde sich das Ganze mehr als fünfmal um die Erde erstrecken, Stoßstange an Stoßstange. Unsere Straßen sind bloß deshalb nicht komplett durch Staus blockiert, weil ein privates Auto durchschnittlich mehr als 23 Stunden täglich parkt. Doch auch das ist platzraubend und ineffizient.

Sektornote: Ungenügend


Hinzu kommen Umweltzerstörung und Klimawandel: Für unsere Fortbewegung massenhaft Öl zu verbrennen und CO2 auszustoßen, können wir uns nicht mehr lange leisten. Zwischen 1990 und 2020 wurden die CO2-Emissionen im Verkehrssektor laut Umweltbundesamt nur um zehn Prozent reduziert. 2020 beliefen sie sich auf 146 Millionen Tonnen. Im August 2022 lehnte der Expertenrat für Klimafragen den Klima-Notfallplan des Verkehrsministers als unzureichend ab. „Und dass die Bundesregierung ihr Ziel erreicht, die Emissionen des Verkehrssektor bis 2030 auf höchstens 85 Millionen Tonnen CO2 zu reduzieren, ist fraglich“, sagt Oliver Schwedes, Leiter des Fachgebietes Integrierte Verkehrsplanung an der TU Berlin.

Der Ruf nach einer Verkehrswende wird deshalb immer lauter – und die Wende findet an vielen Stellen auch bereits statt. Unsere Mobilität wandelt sich in unterschiedlichen Bereichen, meist in einzelnen Schritten, die nicht miteinander koordiniert sind. So entsteht ein bislang unübersichtliches Bild: Hersteller von Autos und Zweirädern setzen zunehmend auf elektrische Antriebe. Dies forciert die Nachfrage nach Ladeinfrastruktur, in Gebäuden sowie an Straßen. Um die Verteilung des Stadtraums wird generell härter gerungen. Fußgänger, Radler und Öffentlicher Nahverkehr sollen Teile der enormen Flächen erhalten, die bisher der motorisierte Individualverkehr okkupiert. Die Digitalisierung wiederum ermöglicht es, eine breite Palette von Verkehrsmitteln deutlich flexibler zu nutzen. Apps erleichtern die Fahrt mit Bahnen und Bussen, auch Zweiräder jeglicher Art sowie Autos lassen sich via Smartphone spontan für einzelne Touren oder für längere Zeiträume buchen.

Das Manifest der freien Straßen
 

Die Denkfabrik paper planes, das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und die TU Berlin haben im Juni 2022 ein „Manifest der freien Straßen“ veröffentlicht, das all diese Entwicklungen zusammenführt und als Ziel setzt, dass „die Straßen deutscher Städte völlig neu gedacht“ werden. Im Fokus des Zukunftsszenarios stehen ökologisch-nachhaltige Verkehrsträger wie Fahrräder und geteilte Mobilitätsangebote wie Öffentlicher Nahverkehr und Sharing. Die kreativ-wissenschaftliche Allianz sieht dies als großen Gewinn für die Nachbarschaft, die Gesundheit der Menschen sowie den Kampf gegen den Klimawandel.


Auch die Volkswirtschaft würde den Forschenden zufolge in vielerlei Hinsicht von der schrittweisen Umsetzung des Manifests profitieren: So könne der frei werdende Straßenraum mittels Pavillons als Fernarbeitsplatz, für Infrastrukturversorgung oder Werk- und Produktionsstätten genutzt werden. Dies würde Pendlerinnen und Pendlern viele zeitintensive Wege ersparen und hiesige Städte ein Stück weit unabhängig von den globalen Krisen machen. Das Manifest entwirft nicht nur das Konzept einer nachhaltigeren Stadt der Zukunft. Es weist auch den Weg dorthin, gibt mit Politik- und Beteiligungsthesen konkrete Handlungsempfehlungen, wie politischer Wille und Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern angegangen werden sollten.

Pull- und Push-Maßnahmen


Mit attraktiven Angeboten, sogenannten Pull-Maßnahmen, die Autofahrende zu Bahn und ÖPNV ziehen sollen, ist es dabei laut Stand der Forschung nicht getan. Es brauche auch Verordnungen, die das Kraftfahrzeug unattraktiver machen, sogenannte Push-Maßnahmen. Das heißt: Die Politik sollte Vergünstigungen wie Umweltkarten und Taktverdichtungen mit finanziellen Verpflichtungen wie City-Maut, Parkraumbewirtschaftung oder Bepreisung von Firmenparkplätzen flankieren. Erst dann werde das Auto stehen gelassen und eine Verkehrswende möglich. „Leider ist diese Erkenntnis in der Politik noch nicht hinreichend angekommen und vielleicht muss sich die Wissenschaft auch selbst an die Nase fassen, es nicht überzeugend kommuniziert zu haben“, gibt sich Schwedes selbstkritisch, der sich diesem Thema im Forschungsprojekt „Pull & Push – Gut & Böse“ widmet.

Ohne Pull-Maßnahmen geht es natürlich nicht. Und hier spielen Bahnhöfe eine zentrale Rolle. Dort beginnen und enden Reisen nicht bloß, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Dort sind auch Angebote für die „erste“ und „letzte“ Meile gefragt, die Verknüpfung des Schienenverkehrs mit anderen umweltfreundlichen Verkehrsmitteln, wie Straßenbahn, Bus, Rad oder Sharing-Angeboten. „Anschlussmobilität ist ein entscheidendes Kriterium für die Attraktivität der Bahnmobilität“, sagt Jutta Deffner, Leiterin des Forschungsschwerpunkts Mobilität und Urbane Räume am Institut für sozial-ökologische Forschung. Das ISOE leitet im Auftrag des Deutschen Zentrums für Schienenverkehrsforschung das Projekt „Bahnhof der Zukunft“.

Verkehr steht dabei nicht nur für Bewegung von A nach B, sondern schließt auch Aufenthaltsqualitäten ein: „Wir forschen für einen konsequenten Wandel vom Bahnhof als Station des Schienenverkehrs hin zu einer Mobilitätsplattform, die einen Gewinn für Reisende und Gäste darstellt“, so Deffner. Ein Ziel im Projekt sei es deshalb auch, die Attraktivität von Bahnhöfen und ihrem Umfeld zu erhöhen – indem sie zugleich Treffpunkte und Orte für Kultur, Gastronomie und Freizeit werden. Ein wichtiger Schlüssel für das Gelingen der Verkehrswende ist, dass möglichst viele sie unterstützen – weil alle davon profitieren können: Wenn genügend Menschen aufs eigene Auto verzichten, kommen alle schneller ans Ziel als bislang, weil geteilte Mobilität für freiere Straßen sorgt. Und Parkraum, der künftig vielfältig als öffentlicher Raum genutzt wird, erhöht die Lebensqualität aller, die dort leben.

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