Mensch und Umwelt im Mittelpunkt

Die Gründerszene in Deutschland hat trotz Pandemie keinen Einbruch erlebt. Einziges Hindernis ist der Fachkräftemangel aufgrund der demografischen Entwicklung. 

Illustrationen: Anna Zaretskaya
Illustrationen: Anna Zaretskaya
Andrea Hessler Redaktion

Kosmetik aus Muttermilch, ein teilbares Rollstuhlrad oder eine Hightech-Katzenklappe – in der Sendung „Höhle der Löwen“ treten Existenzgründerinnen und -gründer auf, die für ihre mehr oder weniger originellen Geschäftsideen Kapital einsammeln, einen Deal mit einem der finanzkräftigen Investoren machen wollen. Die Mehrzahl der deutschen Unternehmensgründer:innen hat jedoch eher schlichtere Vorhaben. Von den rund 660.000 Gewerbeanmeldungen, welche das Statistische Bundesamt im Jahr 2020 verzeichnete, entfiel der größte Anteil mit zirka 160.000 auf den eher profanen Handel mit und die Reparatur von Kraftfahrzeugen. Der zweitgrößte Bereich (zirka 75.000) umfasst wirtschaftliche Dienstleistungen verschiedener Art.

Hinzu kommen Tausende Handwerksbetriebe, für deren Gründung in den meisten Berufen die Meisterprüfung samt Eintrag in die Handwerksrolle erforderlich ist; auch ein gewisses Traditionsbewusstsein wird gerne gesehen. So wirbt etwa die Handwerkskammer Reutlingen auf ihrer Website mit der Ankündigung: „Der neue historische Meisterbrief ist da!“, ein grammatikalisch nicht ganz einwandfreier Hinweis auf die Urkunde im altertümelnden Design. Dieses soll wohl auf traditionelle Tugenden im Handwerk hinweisen wie zum Beispiel Sorgfalt, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Dabei haben die meisten Betriebe gar keine Werbung nötig. Vor allem in Großstädten sind Kunden schon froh, wenn sich ein Klempner oder Elektriker in ihre Wohnung bemüht, um kleinere oder größere Schäden zu beheben.

In vielen Gewerken macht sich wie in anderen Wirtschaftszweigen der Mangel an Auszubildenden, Fachkräften, Gründern und Betriebsnachfolgern massiv bemerkbar. „Durch den demografischen Wandel fehlen jetzt schon jede Menge potenzielle Betriebsnachfolger“, klagt Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. „Deshalb empfehle ich allen Gründungs-interessierten, nicht nur an eine Neugründung, sondern auch an die Übernahme eines bestehenden Betriebs zu denken.“ Ob Übernahme oder Neugründung, für Wollseifer zählt das Wagnis Selbstständigkeit zu den Essentials des Handwerks: „Wer einen Betrieb gründet, schafft etwas Neues von Wert“, betont der ZDH-Präsident.

Die Gründerszene ist inhomogen, nicht alle Gewerbeanmeldungen betreffen, wie die Betriebsübernahmen im Handwerk zeigen, klassische Neugründungen. Diese erfasst unter anderem der jährlich erscheinende Gründungsmonitor der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Das Ergebnis für das Jahr 2021: Mit 607.000 Existenzgründungen haben sich vergangenes Jahr zirka 70.000 Personen mehr selbstständig gemacht als 2020. Das entspricht einem Plus von 13 Prozent. „Weil allerdings viele ihre Pläne coronabedingt nur auf Eis gelegt hatten und im vergangenen Jahr dann doch umgesetzt haben, konnte das Gründungsgeschehen 2021 den Corona-Knick hinter sich lassen. 607.000 Menschen haben den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt – etwa so viele wie 2019, vor Pandemieausbruch“, sagt Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW.

 

Mit Hilfe von Profis den Förderdschungel durchforsten


 

Die Gründung eines Unternehmens, zumal, wenn mit ihr eine eigene, noch nicht erprobte Idee umgesetzt wird, ist immer ein Wagnis. Meistens investieren die Neu-Unternehmer nicht nur ihr Herzblut, sondern auch private Ersparnisse. Wer nicht auf eigenes Geld oder jenes von Familie und Freunden zugreifen kann, kann aber mit hoher Wahrscheinlichkeit öffentliche Fördermittel in Anspruch nehmen. Laut Angaben von Existenzgründungsprofis (etwa auf der Hilfe-Website für-Gruender.de) gibt es innerhalb der EU mehr als 2.000 Fördermittel und Zuschüsse, ein Dschungel, der ohne die Unterstützung spezialisierter Fördermittelberater kaum zu durchdringen ist.

Geld gibt es zum Beispiel vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, unter anderem aus dem Topf des Förderprogramms „INVEST Zuschuss für Wagniskapital“. Allerdings ist die Zukunft dieses Programms ungewiss, eigentlich soll es 2022 auslaufen – auch wenn eine Studie des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) die Weiterführung des Programms empfiehlt. Das alarmiert unter anderem den Verband der Business Angels. „Es besteht die große Gefahr“, so Roland Kirchhof, Vorstand von Business Netzwerk Deutschland (BAND), dass der Start-up-Standort Deutschland, der zuletzt aufgeholt hat, wieder stark zurückfällt.“ Ursache sei, so Kirchhof, dass die Förderung im Vergleich zum Ausland, insbesondere Großbritannien, unattraktiv zu werden drohe.

 

Hohe Innovationskraft der deutschen Gründerszene


 

Doch noch ist das nicht der Fall und scheinen Befürchtungen für einen Verlust an Gründergeist hierzulande eher übertrieben. Beweise für Innovationskraft und Risikofreude liefern Gründerpreise, die regelmäßig auf Bundes- und Landesebene vergeben werden. Beliebte Themen von Gründerinnen und Gründern sind Umweltschutz und Medizin. So sicherten sich beim Businessplan-Wettbewerb Berlin-Brandenburg (BWP) Health-Start-ups die ersten drei Plätze. Das Preisgeld von 20.000 Euro erhielt etwa in der dritten Auszeichnungsrunde des BWP RooWalk Mobility für die nächste Generation einer elektrischen Gehhilfe für Kinder mit körperlichen Einschränkungen. Die Gehhilfen werden mittels digitaler Technologien erweitert, ein neuartiger Ansatz, der Mediziner:innen bei der Behandlung von Zerebralparese unterstützt.

„Wir beobachten, dass immer mehr Gründer:innen den Menschen und seine Gesundheit in den Fokus ihrer Aktivitäten nehmen“, sagte Dr. Hinrich Holm, Vorstandsvorsitzender der Investitionsbank Berlin, die das Event zur Preisverleihung für den dritten Abschnitt des Wettbewerbs ausrichtete. Bereits im Januar 2022 war in der ersten Sequenz des BPW ein Medizin-Start-up auf dem ersten Platz gelandet. Dessen Ziel ist es, das Leben mit Demenz zu erleichtern. Die zunehmende Zahl von demenziell Erkrankten, eine Folge der höheren durchschnittlichen Lebenserwartung, ist eine Geisel der Menschheit. Alleine in Deutschland leiden rund 1,6 Millionen Betroffene an dem Verlust ihres Gedächtnisses mit fatalen Folgen für ihre Lebensqualität. Hier soll die mit dem Preis ausgezeich-
nete App memomdio helfen. Sie bietet ein individualisierbares und vollständig digitales Therapieprogramm, das Betroffene im Alltag unterstützt.

 

Ökologisches Bauen reizt Start-up-Gründer


 

Doch nicht nur der Mensch als Individuum, sondern auch seine sozialen Gemeinschaften und sein Habitat stehen vor immer komplexeren Herausforderungen. Die Bauwirtschaft ist sehr ressourcenintensiv und produziert weltweit 60 Prozent des Müllaufkommens und 40 Prozent des CO2-Ausstoßes. Zudem ist der Betrieb von Gebäuden einer der Hauptverursacher von Treibhausgasen. Dem will das Start-up Concular in Berlin abhelfen. Ziel des 2020 gegründeten Unternehmens ist die zirkuläre Bauwirtschaft; Materialien sollen so oft wie möglich verwendet werden. Hierfür werden sie mittels Materialpässen digitalisiert und in einer Datenbank gesammelt. Architekturbüros können dann bei ihren Projekten den Bedarf mit der Datenbank abgleichen. Matchen Bedarf und Angebot und finden sich geeignete Materialien, organisiert Concular den Transport von der Rückbau- zur Neubaustelle, misst dabei das eingesparte CO2 und die Menge des eingesparten Mülls. Inzwischen wurden bereits Tausende Tonnen CO2 eingespart und mehr als 20.000 Tonnen Baustoffe wieder in den Baukreislauf eingebracht.

Es muss nicht immer nur Zement, Aluminium oder Kunststoff sein. An der Verbesserung der Baustoffe selbst arbeitet das Berliner Unternehmen made of air. Der Name ist Programm, made of air produziert ein Granulat, das hauptsächlich aus CO2 besteht, das der Atmosphäre entzogen wird. Das Granulat kann unter anderem als Zusatzstoff für Baumaterialien verwendet werden.

 

Gründer wollen ausgetrampelte Pfade verlassen


 

Auch bei der wohl wichtigsten Auszeichnung für Unternehmensgründer hierzulande, dem Deutschen Gründerpreis, der vom Magazin Stern, den Sparkassen, ZDF und Porsche ausgelobt wird sowie vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz unterstützt wird, stand im Jahr 2022 das Thema Nachhaltigkeit im Mittelpunkt. Sieger in der Kategorie Start-up wurde das Unternehmen traceless materials aus Hamburg. Seine Gründerin Dr. Anne Lamp hat der weltweiten Plastikverschmutzung den Kampf angesagt. Gemeinsam mit Co-Gründerin Johanna Baare hat die Verfahrensingenieurin aus Getreideresten, ein Abfallprodukt, das selbst schon bio ist, einen Stoff entwickelt, der Plastik ersetzen kann. Das traceless-Granulat lässt sich praktisch wie Kunststoff-Granulat verarbeiten, enthält jedoch kein Erdöl, sondern Getreideabfall. Mitgründerin Dr. Anne Lamp sagt: „Der Drang und die Ungeduld, etwas verändern zu wollen, hat mich zum Gründen quasi getrieben. Ich kann nur dazu ermutigen, diesen Schritt zu gehen, denn auf getrampelten Pfaden gibt es kaum Veränderung.“

 

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