Her mit den Innovationen!

Deutschland war mal Top bei Patenten und Erfindungen, verliert seit den 2000er-Jahren allerdings konsequent an Boden. Das ist auch an den Neugründungen im Land zu spüren. An welchen Stellschrauben muss gedreht werden, um das zu ändern?

Illustration: Emanuela Carnevale
Illustration: Emanuela Carnevale
Julia Thiem Redaktion

Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 65,8 Billionen Euro „unbar“ umgesetzt, ist auf Statista zu lesen. Dass Zahlungen mit Kredit- oder EC-Karte überhaupt möglich sind, verdanken wir dem Hamburger Rundfunkmechaniker Jürgen Dethloff und seinem Geschäftspartner Helmut Gröttrup, seines Zeichens Experte für Raketensteuerung. Ende der Sechzigerjahre meldeten beide das Patent „Identifikand mit integrierter Schaltung“ an, das wir heute als Chipkarte kennen. Seit Ende der 1990er-Jahre sind die kleinen Schaltkreise als Informations- und Datenspeicher beispielsweise in Bankkarten integriert und ermöglichen uns das komfortable und bargeldlose Zahlen, das sich auch hierzulande immer stärker durchsetzt. 

Tatsächlich stammen viele solcher Innovationen, die die Welt ein klein wenig revolutioniert haben, aus Deutschland: der Buchdruck, der Dynamo, das erste Motorrad, das erste Auto, die Röntgenstrahlung oder Aspirin. Deutscher Erfindergeist ist breit aufgestellt – oder vielmehr war er es. Denn Innovationen „Made in Germany“ scheinen ein Bild vergangener Tage. Auf YouTube gibt es ein Video der World Intellectual Property Organization, WIPO, das die zehn Länder mit den meisten Patentanmeldungen weltweit im Zeitverlauf von 1990 bis 2021 zeigt. Während Deutschland 1990 noch auf Platz zwei hinter den USA lag, wendete sich das Blatt Anfang der 2000er-Jahre. Erst schob sich Japan auf den zweiten Platz, dann überholte China 2012 und auch Südkorea verwies Deutschland 2019 auf den fünften Platz.  

Die USA wurden 2018 von China auf den zweiten Rang verwiesen, was nahelegt, dass Demografie ein Faktor für Innovationen und neue Erfindungen sein könnte. Und da haben die immer älter werdenden Bevölkerungen der Industrienationen das Nachsehen. Diese These stützt ein Blick auf die amerikanischen Nobelpreisträger in den Kategorien Physik, Chemie und Medizin. Zwischen 2000 und 2021 wurden die Preise in 38 Prozent der Fälle an Einwanderer verliehen. Die USA profitieren also von ihrer vormals offenen Einwanderungspolitik, die offensichtlich junge, innovative Köpfe ins Land geholt hat. Die Harvard Business School schreibt dazu: „Es ist kein Geheimnis, dass Einwanderung amerikanische Innovationen neu gestaltet hat. Einwanderer bilden das Rückgrat der innovativsten Industrien des Landes, stellen ein Viertel unserer Patentanmeldungen und sind unter den Superstars der Wissenschaft und Technik zahlreich vertreten.“

Auch für Deutschland läge hier durchaus Potenzial, sich neue frische Ideen quasi zu importieren. Denn die Zahlen der Harvard Business School zeigen, dass ein Großteil der klugen und innovativen Köpfe in Schwellenländern wie China und Indien ihr Heimatland verlassen, um anderswo Fuß zu fassen. Deutschland will für diese Fachkräfte attraktiver werden, was mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz gelingen soll, auf das sich die Ampelkoalition in diesem Jahr geeinigt hat. Zentrales Element des Gesetzes ist die „Blaue Karte EU“ speziell für Nicht-EU-Bürger mit einem Hochschulabschluss. 

»Innovationen aus Deutschland sind vor allem im Maschinenbau und in der Fahrzeugindustrie zu finden.«

Ob eine solche qualifizierte Zuwanderung den deutschen Erfindergeist langfristig wieder ankurbelt, bleibt abzuwarten. Wünschenswert wäre es, denn laut dem Bundesverband Deutsche Start-ups sinkt die Gründungsaktivität im Land deutlich um 18 Prozent. 2021 wurden knapp 3.200 neue Unternehmen in Deutschland gegründet, 2022 waren es gerade mal rund 2.600. Und auch regional gibt es deutliche Unterschiede. Die meisten Gründungen – nämlich 39 Prozent – gibt es in den fünf bevölkerungsreichsten Städten, angeführt von München, was der Verband auf das starke, universitätsnahe Ökosystem zurückführt. Auffällig: Unter den Top Ten-Städten für Neugründungen befindet sich keine ostdeutsche Stadt. Die durchschnittliche Anzahl an Neugründungen pro 100.000 Einwohner lag 2022 deutschlandweit bei 3,1. Bestes ostdeutsches Bundesland ist Brandenburg mit 2,4. Das Schlusslicht bildet Sachsen-Anhalt mit 0,7. 

Die wirtschaftliche Schwäche im Land sorgt offensichtlich auch für Unsicherheit bei Neugründungen, was der Report des Verbands weiter unterstreicht. 39 Prozent weniger Neugründungen im eCommerce, minus 26 Prozent im bisher gründungsstärksten Sektor Software und minus 28 Prozent bei den eigentlich boomenden FinTechs. Stark waren hingegen Gründungen im Zusammenhang mit Blockchain und Kryptowährungen (+65 Prozent) und auch immer mehr Ideen im Bereich Umwelttechnologien werden umgesetzt (14 Prozent mehr Gründungen).

Sorgen um den deutschen Erfindergeist macht sich auch das Institut der Deutschen Wirtschaft, IW. Dort beobachtet man, dass zwar immer mehr Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt EPA in München eingehen – 2022 war es ein Plus von 2,5 Prozent –, davon aber immer weniger aus Deutschland kommend (minus 4,7 Prozent). Im IW geht man von strukturellen Gründen als Ursache aus. Denn am Geld läge es nicht: „2022 hat die gesamtwirtschaftliche Forschungs- und Entwicklungsquote ein Allzeithoch erreicht.“ Der Fingerzeig geht auch hier in Richtung Politik, die dafür sorgen müsse, dass es mehr Fachkräfte gibt und MINT-Berufe und Studiengänge gerade für junge Frauen attraktiver werden. „Das Rennen ist noch nicht verloren“, glauben die Experten im IW, schließlich sei Deutschland gemessen an seiner Bevölkerungsgröße noch immer in der Erfinder-Spitzengruppe. Das Video des WIPO ergänzt diesen Satz allerdings um ein „noch“. Denn die eingangs erwähnten Innovationen aus Deutschland sind vermehrt im Maschinenbau und in der Fahrzeugindustrie zu finden. In den Innovationsfeldern von morgen, der digitalen Elektrotechnik, sind wir bislang eher schwach aufgestellt. Ändert sich das nicht, verlieren wir nicht nur unseren Status als Erfindernation, sondern verpassen auch den entscheidenden technologischen Wandel. 

Einen Lichtblick gibt es allerdings doch: Eine Mitte September veröffentlichte Studie des IW zeigt, dass Baden-Württemberg ähnlich innovativ ist wie die US-Bundesstaaten Massachusetts und Kalifornien mit Spitzenuniversitäten wie Harvard oder der Gründerhochburg Silicon Valley. Baden-Württemberg punkte mit einer recht hohen Zahl qualifizierter Einwanderer, einer starken Industrie, soliden Exportraten und hohen Investments in Forschung und Entwicklung – vielleicht das Erfolgsrezept für eine gesamtdeutsche Trendwende. 

 

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