Linienflug Berlin-München-Bilbao, mit Lufthansa. Der Abflug erfolgt schon spät, das Umsteigen in München wird knapp. In München legt das Flugzeug nicht an einem der freien Gates an, sondern wird auf eine Außenposition dirigiert. Das Warten auf den Flughafenbus beginnt. Nachfrage, warum es so lange dauert. In München herrsche „Personalmangel“, die Abfertigung komme nicht hinterher. Und warum steht der Flieger angesichts der Zeitnot auf der Außenposition? Achselzucken.
Der Flieger ist voll mit Passagieren, die umsteigen müssen. Die Fluglinie sei über die vielen Anschlussreisenden informiert, so eine Durchsage. Es werde geprüft, ob Anschlussflüge warten können. Keine weiteren Informationen. Nach rund 20 Minuten kommt der Flughafenbus, und das große Rennen beginnt. Alle hasten panisch zu ihren Anschlussgates. Bilbao ist soeben geschlossen. Die Mitarbeiterin am Gate weiß anscheinend von nichts. Unter dem Druck Dutzender Passagiere öffnet sie das Gate wieder. Alle kommen noch mit, viele Geschäftsreisende in verschwitzten Anzügen. Ihr Gepäck bleibt in München. Die Nachforschung erfolgt bei Lufthansa über die App: „Our Chat Assistant will answer your questions“, heißt es ab jetzt, die nächsten Stunden. Die nächsten Tage.
Alle schimpfen auf die Deutsche Bahn. Was aber bei der Deutschen Lufthansa los ist, einem börsennotierten Vorzeige-Unternehmen, steht symbolisch für den Zustand des ganzen Landes. In Deutschland fehlt es an allen Ecken und Enden. Personal ist kaum mehr zu bekommen, die übrigen Mitarbeitenden sind häufig überfordert. Die Digitalisierung dient als Notanker. Kaputtgesparte Strukturen bringen Kunden auf die Palme. Führungskräfte fürchten Verantwortung. Und die Wirtschaft? Rutscht in die Rezession. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) rechnet mit einem Rückgang des BIP um bis zu 0,5 Prozent.
Hauptgründe: hohe Zinsen, teure Energie, schwacher Export. Dazu kommt eine überbordende Bürokratie. „Statt Unternehmen und Bürger mit immer mehr Gängelung und Bürokratie zu überlasten, müssen Gesetze und Richtlinien schnellstmöglich auf Effizienz und Sinnhaftigkeit überprüft und neujustiert werden“, fordern „Die Familienunternehmer“. Die Regierung ist gefragt, Bürokratie abzubauen und zugleich umzusetzen, was Jahrzehnte lang verschoben wurde: Entbürokratisierung, Ausbau der Infrastruktur, der Digitalisierung, der Schienenwege, Fachkräftegewinnung, Pflege- und Krankenhausreform. Wer so viel vor der Brust hat, kann kein gutes Bild abgeben. Der Eindruck: Die Koalition steht vor dem Burnout.
Wo Politik und Wirtschaft überfordert sind, bemächtigen sich Gegenspieler der Leerstellen. Fall Lufthansa: Da der „Chat Assistant“ mitnichten in der Lage ist, in Sachen Gepäck weiterzuhelfen, wird die Hotline angerufen. Über die LH-Website, Button „Hotline“, meldet sich ein englischsprachiger Mann, der vorgibt zu wissen, wo das Gepäck abgeblieben ist und wann man es wo zurückerhalte. Nur müsse man noch einige Daten durchgeben, die Flugnummer, ja, Buchungscode, ja, Vorgangsnummer, ja, Kreditkartennummer... Halt, stop! Eine Archivrecherche im Netz ergibt: Die Website im Netz sieht aus wie die von Lufthansa, ist aber nicht von Lufthansa. Die Fake-Website ist nicht neu, aber nicht einmal der echte Lufthansa-Berater, ein Anruf später, hat von diesem Betrug je gehört. Dabei sind schon viele Passagiere um Geld erleichtert worden.
Ein andere schöne App-Story ist die Sache mit dem Montrealer Abkommen, nach dem Passagiere für verlorenes oder verspätetes Gepäck ein Recht auf Entschädigungszahlungen haben. Das geht bei Lufthansa auch über die App. Dort kann man Quittungen über Hygieneartikel und benötigte Kleidung abfotografieren und hochladen. Gesagt, getan. Die Quittung der Fluglinie kommt per Mail: Man habe nichts hochgeladen, ergo keine Entschädigung. Wie bitte? Kein Angebot eines Uploads auf einem anderem Kanal, keine Postadresse? Auf die Beschwerde folgt wenige Tage später dieselbe Mail wie die erste, also vermutlich eine Standard-Mail. Besonders schön der Schlusssatz: „Auch wenn das nicht die Antwort ist, die Sie sich von uns erhofft hatten, würden wir uns freuen, wenn Sie trotzdem gern weiterhin mit Lufthansa fliegen.“ Übertragen auf Deutschland, würde der Satz so lauten: „Erwarten Sie nichts. Aber zahlen Sie gern weiterhin Ihre Steuern.“
Durch Deutschland muss ein Ruck gehen – das hatte 1997 Bundespräsident Roman Herzog angemahnt. Anlass war die angespannte Situation der deutschen Wirtschaft nach der Wiedervereinigung. Die Arbeitslosigkeit stieg, die Staatsschulden wuchsen ins Unermessliche. Die CDU-geführte Bundesregierung unter Helmut Kohl, die seit 1990 durchregierte, war zu Reformen nicht in der Lage. Die wurden erst unter Kanzler Schröder und seiner rot-grünen Regierung eingeleitet.
Manchmal braucht es einen Wechsel der Perspektive, um zu erkennen, woran es wirklich hakt. Von „Arroganz“ der deutschen Automobilindustrie war die Rede, als es darum ging, dass sie die E-Mobilität verschlafe. In Wirklichkeit war es wohl eher die Furcht der Führungskräfte vor den Konsequenzen, mutmaßlich ähnlich wie bei den langjährigen CDU-geführten Bundesregierungen Kohl und Merkel: Das Management wollte schlicht keine riskanten Entscheidungen treffen, die es am Ende den Kopf kosten könnten. Devise: Wer nichts macht, macht auch nichts falsch.
Diesmal ist es der Rückflug von Bilbao über München nach Berlin. Wieder Verspätung, wieder fällt das Wort: „Personalmangel“. Wieder geht es für die Mehrheit der Passagiere darum, einen Anschlussflug zu verpassen. Wieder wird das Gepäck verspätet sein, diesmal wochenlang. Informationen? Gibt es nicht. Oder sie sind falsch. Eine Lufthansa-Mail besagt, der Anschlussflug nach Berlin sei nicht mehr zu erreichen. Auf der Abflugtafel im Internet wird aber auch die Verspätung des Anschlussflugs angezeigt, er könnte also doch noch erreicht werden. Die Stewardess rät: Möglichst schnell rennen. Wie weit denn in München das Ankunftsgate vom Abfluggate entfernt ist? Achselzucken. Sie verweist auf das Internet. Klar, was das bedeutet: „Our Chat Assistant will answer your questions.“
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