Die Kraft des Schattens

Immer mehr Photovoltaik-Freiflächenanlagen erzeugen Sonnenstrom. Auf den darunterliegenden Äckern und Wiesen können Solarpaneele sogar den Ertrag der Ernten erhöhen.

Illustration: Emanuela Carnevale
Illustration: Emanuela Carnevale
Axel Novak Redaktion

Freiburg im Breisgau im Herbst, es dreht sich natürlich alles um Wein. Nur dieses Mal etwas anders: Im Stadtteil Munzingen ist im September eine Photovoltaikanlage (PV) eröffnet worden, die sich über Weinreben wölbt – laut Betreiber die erste ihrer Art. Mit solch einer „Vino-Photovoltaikanlage" sollen Weinanbauflächen gleich doppelt genutzt werden. Unten wachsen Trauben heran, oben erzeugen mehr als 1.600 lichtdurchlässige PV-Module Strom. Der Ertrag der 3.200 Quadratmeter großen Fläche soll bei jährlich etwa 300.000 Kilowattstunden (kWh) Strom liegen. Die Paneele sollen die Reben vor Extremwetter schützen, könnten außerdem den Erntezeitpunkt nach hinten verschieben. Inwieweit, das erforscht derzeit das Staatliche Weinbauinstitut Freiburg.

Das Projekt ist eines der neuesten Vorhaben, um landwirtschaftliche Flächen clever zu nutzen. Hintergrund ist, dass Deutschlands Fläche naturgemäß begrenzt ist – und damit auch die Anzahl der PV-Anlagen, die errichtet werden können. 

Denn Deutschland hat ein Energieproblem. Aber hat Deutschland auch ein Flächenproblem? „Um 100 Prozent unseres bis dahin nochmal stark gestiegenen Strombedarfs mit Erneuerbaren zu decken, müssen wir im Vergleich zu heute das sechs- bis achtfache an Photovoltaik-Leistung installieren“, sagt Christoph Kost vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE. Bis zu 446 Gigawatt PV-Leistung müssen in wenigen Jahren installiert werden, bis Ende 2021 waren es 59 Gigawatt. 

In den ersten sieben Monaten 2023 sind zwar bereits rund 593.000 neue Solaranlagen mit einer Gesamtleistung fast acht Megawatt an das Netz angeschlossen worden, so das Internationale Wirtschaftsforum Regenerative Energien. Doch das reicht noch lange nicht – weshalb immer mehr unterschiedliche Flächen als mögliche Stromerzeuger in den Fokus rücken.

 

FLÄCHEN DOPPELT NUTZEN

Deutschland umfasst eine Fläche von 357.581 Quadratkilometern. Rund ein Siebtel ist besiedelt oder wird für Verkehr genutzt. Ein kleiner Teil ist Wald, Wasser oder wird anderweitig verwertet. Die Hälfte des Landes wird genutzt, um Lebensmittel und vor allem Tierfutter zu erzeugen. Theoretisch könnten diese Flächen oft doppelt genutzt werden: mit integrierter Photovoltaik. „Photovoltaik verbindet sich hier mit der Landwirtschaft, schwimmt auf gefluteten Tagebauen, passt in Gebäude- und Fahrzeugaufbauten, folgt Verkehrswegen oder bedeckt bereits versiegelte Flächen wie Parkplätze“, erläutert Harry Wirth vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE. „Die Integration von PV-Anlagen in solche bereits genutzten Flächen erschließt ein riesiges Potenzial zur Stromerzeugung – und schafft eine Fülle weiterer Synergien.“

Kritiker befürchten, dass künftig Solarparks über den alten Äckern schimmern und lukrative Stromeinnahmen die klassische Landwirtschaft auch auf guten Böden ersetzt. Doch speziell entwickelte Agri-PV-Anlagen können Stromerzeugung mit dem Anbau von Pflanzen kombinieren. Weil die Module aufgeständert, vertikal oder mit Motoren speziell ausgerichtet werden, bleiben fruchtbare Böden der Landwirtschaft erhalten. Studien zeigen zudem, dass die reduzierte Einstrahlung den Ertrag vieler Nutzpflanzen nur geringfügig senkt – einige Pflanzen profitieren sogar von der Verschattung. 

Hinzu kommt ein Aspekt: Heute werden auf rund 14 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen in Deutschland Energiepflanzen für Biogas, Biodiesel, Pflanzenöl oder Bioethanol angebaut. Eine PV-Anlage anstelle beispielsweise von Mais erhöht den Energieertrag auf der gleichen Fläche um ein Mehrfaches, hat die Redaktion der Zeitschrift TopAgrar ausgerechnet. Biogas aus Mais erzeugt 23 Megawattstunden (MWh) je Hektar, PV-Anlagen generieren 700 MWh auf der gleichen Fläche. Noch besser ist mit 18 GWh der Ertrag einer Windenergieanlage.

 

BIOTOPE UNTER DEN SOLARPARKS

Anrainer sind von den oft Hektar großen Anlagen nicht begeistert. Viele Projekte spalten die Dorfgemeinschaft zwischen wenigen Landeigentümern, die wirtschaftliche Profite einstreichen, und vielen Dorfbewohnern, die sich von PV-Anlagen umzingelt fühlen – und um die Biodiversität ihres Umlands fürchten.

Sie könnten durch die Bebauung teilweise zufrieden gestellt werden: Unter PV-Modulen könnten sogar wahre Biotope auf mageren Böden entstehen. Wenn Wiesen seltener gemäht und Äcker weniger gespritzt werden, entwickeln sich geschützte Bereiche für Arten, die in Deutschland seltener geworden sind. 

Derzeit besteht die in Deutschland installierte Photovoltaik-Leistung nur zu etwa einem Drittel aus Freiflächenanlagen. Zwei Drittel dagegen liegen auf den Dächern, so das Umweltbundesamt. Denn auch wenn schon geschätzt mehr als zwei Millionen PV-Anlagen auf den Dächern liegen, ist das Potenzial weiterhin enorm. Rund 40 Millionen Gebäude gibt es in Deutschland, deren Hüllen rein rechnerisch den deutschen Strombedarf der Zukunft zweimal decken könnten.

Auch andere Siedlungs- und Verkehrsflächen lassen sich mit PV-Modulen überdachen oder belegen. Allein die mehr als 300.000 größeren Parkplätze in Deutschland bieten mit PV-Modulen belegt ein technisches Potenzial von 59 GWP – das entspricht in etwa der Gesamtleistung, die bis zum vergangenen Jahr in Deutschland installiert wurde. Vorteil solcher urbanen PV-Anlagen ist, dass bereits versiegelte Flächen genutzt werden. Gleichzeitig können sie als Beleuchtung, Schattenspender, e-Ladeinfrastruktur oder Regenschutz dienen – und möglicherweise steril wirkende Orte optisch aufwerten. 

Besonders markant sind andere Elemente der solaren Stromversorgung: die Balkonkraftwerke, mit denen ein Durchschnittshaushalt rund ein Fünftel seiner Stromkosten spart. Rund 288.000 solcher Geräte gibt es derzeit in Deutschland, schätzt die Bundesnetzagentur. Auch hier ist das Potenzial enorm: Rund 30 Millionen Wohnungen in Deutschland haben einen Balkon oder eine Terrasse. Künftig könnte der technische Fortschritt auch diese Module leistungsfähiger machen. Auf dem Land hat das funktioniert: Wurden dort im Jahr 2006 noch 4,1 Hektar für ein Megawatt Strom benötigt, waren es 2021 nur noch rund ein Hektar.

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