Bildet Euch!

Qualifizierung ist das Gebot der Stunde. Das hiesige Bildungssystem ist zwar leistungsfähig, aber zu komplex. Education-Start-ups und Online-Plattformen bieten Unterstützung.
Illustration: Agata Sasiuk
Illustration: Agata Sasiuk
Lars Klaaßen Redaktion

Deutschland ist im „New Normal“ angekommen. So wie die Arbeit sich ins Homeoffice verlagert hat, sind auch Schulstunden, Seminare, Trainings und Coachings ins Virtuelle gewandert. Auch wenn in den vergangenen anderthalb Jahren an Schulen, Universitäten und in Unternehmen manches holperte: Die Corona-Pandemie hat viel verändert.

Auch die berufliche Weiterbildung: Lern- und Videoplattformen, Foren und Kollaborationstools spielten bis vor Kurzem nur eine Nebenrolle. Zu Beginn der Pandemie galt Online-Lernen als Notlösung. Digitalisierung im Bereich der Qualifikation ist aber mittlerweile nicht nur akzeptiert, sondern wurde vielerorts auch professionalisiert. Mit modernen Tools werden erweiterte Möglichkeiten genutzt. Das wurde auch Zeit. Denn die Art und Weise, wie wir uns neues Know-how aneignen, muss sich dringend an eine Entwicklung anpassen, die sich bereits in vollem Gange befindet.


In den kommenden 15 Jahren wird sich mehr als jeder zweite Arbeitsplatz in Deutschland durch die Digitalisierung stark verändern oder ganz wegfallen. Gleichzeitig werden neue Berufe entstehen. Dies prognostiziert die von der OECD im April veröffentlichte Studie „Weiterbildung in Deutschland“ – und widmet sich zugleich den sich daraus ergebenden Fragen: Wie gut kann das deutsche Weiterbildungssystem Unternehmen und Arbeitskräften helfen, mit diesem Wandel Schritt zu halten? Wie effektiv unterstützt es die berufliche Weiterbildung, Umschulung und Entwicklung von Menschen mit unterschiedlichen Qualifikationsniveaus, besonders von Geringverdienenden und Geringqualifizierten?

 

»Die OECD empfiehlt, die komplexen Strukturen der deutschen Weiterbildungslandschaft zu vereinfachen.«

 

Kluft vergrößert sich

 

Insgesamt attestiert die Studie dem hiesigen Bildungssystem zwar Leistungsstärke. Doch Weiterbildungsangebote erreichten ausgerechnet diejenigen oft nur schwer, die besonders davon profitieren würden. Dazu gehören sowohl Erwachsene in Berufen mit hohem Veränderungs- oder Automatisierungsrisiko als auch mit geringen Grundkompetenzen, außerdem Geringverdienende und Beschäftigte in kleinen und mittleren Unternehmen. Sie nehmen seltener Weiterbildungsangebote wahr als beispielsweise Menschen mit höheren Qualifikationen – was die Kluft zwischen den Gruppen weiter vergrößert. Die OECD empfiehlt, die komplexen Strukturen der deutschen Weiterbildungslandschaft zu vereinfachen und den Anspruch auf Bildungszeiten und Bildungsurlaub regionen- und branchenübergreifend zu vereinheitlichen.


Dass hierfür akuter Handlungsbedarf besteht, verdeutlicht der Hochschul-Bildungs-Report 2020, den der Stifterverband mit McKinsey erstellt hat: „Der deutschen Wirtschaft fehlen etwa 700.000 Tech-Spezialisten bereits in den kommenden fünf Jahren“. Dies ergab eine Umfrage unter 600 Unternehmen für den Report, die zudem offenlegte: „Jeder vierte Erwerbstätige aus der Wirtschaft hat (Nach-)Schulungsbedarf in digitalen und nicht-digitalen Schlüsselqualifikationen.“ Die gute Nachricht: In diesen Markt drängen aktuell Education-Start-ups und Online-Plattformen mit attraktiven Angeboten.


Der Report untersuchte erstmals genauer den Erfolg dieser neuen Akteure und zeigt die Faktoren auf, die Hochschulen bei ihrer Entwicklung von neuen Weiterbildungsangeboten beachten sollten: „Neben Ausbildung und Forschung sollten Hochschulen Weiterbildung als dritte Säule ihrer Aufgaben strategisch weiterentwickeln.“ Dafür sei auch die verstärkte Kooperation mit Education-Start-ups sinnvoll. Diese punkten vor allem durch eine hohe Anwendungsorientierung und durch innovative Erlösmodelle. Das Lernen ist projektbasiert, individualisiert und praxisnah. Die Erlösmodelle halten die monetäre Hemmschwelle meist niedrig und reichen von Freemium-Modellen (Bezahlen nur für Premium-Inhalte) über Abonnements bis hin zur Bezahlung nach Kurserfolg.

 

Bildungsangebote sind schwer zu finden

 

„Einzelne private und öffentliche Online-Weiterbildungsangebote – von Unternehmen oder Bundesländern initiiert – werden den neuen Anforderungen der Arbeitswelt nicht gerecht“, lautet das Fazit des Reports. Deshalb sollten anschlussfähige Plattformen für digitale Hochschulbildung, die ein Zusammenwirken aller Insellösungen ermöglichen, entwickelt werden. „Die Politik hat dafür Sorge zu tragen, dass durch solche Plattformen die einzelnen fragmentierten Bildungsangebote leicht auffindbar und intelligent miteinander vernetzt sind.“ In diesem Sinne seien nationale Vorhaben auch mit entsprechenden europäischen Initiativen zu verzahnen.


Weiterbildung und Qualifizierung für den rasanten Wandel nicht nur der Wirtschaft, sondern der ganzen Gesellschaft, ist nicht nur eine Frage des Angebots. Auch die Nachfrage spielt eine wesentliche Rolle. Hierbei kann Deutschland eine Entwicklung nutzen, deren Chancen zu selten in den Fokus gerückt werden: Einwanderung. „Nach fünf Jahren erfolgreicher Integrationsarbeit an den Hochschulen ist es Zeit, die Qualifizierung von Geflüchteten dauerhaft im Hochschulsystem zu verankern“, sagte Joybrato Mukherjee, Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni. Der Bedarf werde auch in Zukunft kaum sinken. „Es ist eine einfache Rechnung: Die weltweit steigenden Zahlen erhöhen auch in Deutschland die Notwendigkeit akademischer Integrations- und Qualifizierungsprogramme für Geflüchtete. Die Hochschulen im Land müssen dafür entsprechend ausgestattet werden.“


Mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der NRW-Landesregierung wurden ab 2016 mehrere Programme für ihre Qualifizierung und Integration ins Leben gerufen. „Wir schätzen, dass derzeit rund 30.000 Geflüchtete in einem Fachstudium eingeschrieben sind. Zudem haben inzwischen mehrere Tausend von ihnen einen Masterabschluss erreicht“, so Mukherjee. Die Qualifikation dieser Menschen trage somit auch zur Sicherung des Fachkräftebedarfs in der Bundesrepublik bei. Mindestens 40.000 von ihnen wurden in den vergangenen fünf Jahren im Rahmen der DAAD-Programme auf ein Studium vorbereitet. Jedes Jahr werden in diesem Rahmen ebenso viele Beratungsgespräche mit studieninteressierten Geflüchteten geführt.

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