Mario Draghi hat den Finger in die Wunde gelegt. Der Bericht, den der Wirtschaftswissenschaftler und frühere EZB-Direktor vor drei Wochen der EU-Kommission vorlegte, hat es in sich. Europas Innovationstempo sei im Vergleich mit den großen globalen Volkswirtschaften China und den USA nicht ausreichend, konstatiert er in „The future of European competitiveness“ („Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“). Im Vergleich mit den USA sei die Wirtschaftskraft und damit der Lebensstandard in den vergangenen Jahrzehnten sogar gesunken: Das reale verfügbare Einkommen in den USA sei seit 2000 fast doppelt so stark gestiegen wie in der EU.
Man habe sich in komfortabler Sicherheit gewähnt, so Draghi – jedenfalls, so lange Europa Marktanteile in schneller wachsenden Teilen der Welt gewinnen konnte und die Arbeitslosigkeit sank, was dazu beitrug, die Ungleichheit zu verringern und den sozialen Wohlstand aufrechtzuerhalten. Nun aber sei die Zeit, da Europa sich auf einen florierenden Welthandel stützen konnte, vorbei. Zudem habe Europa seinen wichtigsten Energielieferanten, Russland, verloren. Nun sähen sich EU-Unternehmen sowohl mit stärkerer Konkurrenz aus dem Ausland als auch mit einem geringeren Zugang zu ausländischen Märkten konfrontiert.
BEVÖLKERUNG WÄCHST NICHT MEHR
Schwach sei die EU vor allem in den neuen Technologien, die das zukünftige Wachstum vorantreiben werden. Nur vier der 50 größten Technologieunternehmen der Welt sind europäische Unternehmen. Und Europas Wachstumsbedarf steigt: Denn die Bevölkerungszahlen steigen nicht mehr, im Gegenteil: Bis 2040 wird die Zahl der Beschäftigten voraussichtlich jedes Jahr um fast 2 Millionen sinken. Im Gegenzug werde die Produktivität steigen müssen, um das Wachstum voranzutreiben. Um die Wirtschaft zu digitalisieren und zu dekarbonisieren und die Verteidigungskapazität zu erhöhen, müsse der Investitionsanteil in Europa auf ein Niveau von rund 5 Prozent des BIP steigen. In Summe hieße dies, 800 Milliarden Euro pro Jahr in Europas Wirtschaft zu investieren. Zum Vergleich: Die zusätzlichen Investitionen, die der Marshallplan zwischen 1948 und 1951 bereitstellte, beliefen sich auf rund 1 bis 2 Prozent des BIP jährlich.
Bewerkstelligt werden kann so eine hohe Neuinvestition nur mit einer Neuaufnahme von Schulden. Als ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank weiß Draghi natürlich, dass die Neuverschuldung der EU-Länder gedeckelt ist. Neue Schulden könne sie nur bis höchstens 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufnehmen. Gleichzeitig darf der Schuldenstand eines Mitgliedstaates 60 Prozent der Wirtschaftsleistung nicht überschreiten. Woher die 5 Prozent jetzt kommen sollen, ist unklar. Das ginge nur, indem die europäische Schuldenbremse gelockert wird.
EUROPÄISCHE SCHULDENBREMSE REFORMIEREN
Gesprengt wird sie allerdings regelmäßig, in diesem Jahr etwa leitet die Europäische Kommission gegen Frankreich, Italien, Belgien, Malta, Polen, die Slowakei und Ungarn Strafverfahren wegen zu hoher Neuverschuldung ein. Die Länder wiesen ein übermäßiges Defizit auf, teilte die zuständige Brüsseler Behörde mit. Gegen Rumänien ist bereits ein Verfahren anhängig. Deutschland bekommt, im Gegenteil, Ärger wegen zu geringer Investitionen. Der scharfe Sparkurs ist der EU ein Dorn im Auge. „Die Haushaltskonsolidierung dürfte die Inlandsnachfrage belasten und die öffentlichen Investitionen potenziell erschweren“, heißt es in dem Brüsseler Bericht. Der Investitionsbedarf in Deutschland sei in den vergangenen Jahren gestiegen.
Die einen investieren zu viel, die anderen zu wenig. Kein Wunder, dass europäische Politiker sich einen starken europäischen Haushalt wünschen – wie die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. In ihrer Antrittsrede zur zweiten Amtszeit mahnte sie auch mehr Investitionen an: „Von der Landwirtschaft bis zur Industrie. Von der Digitalisierung bis zu neuen strategischen Technologien. Aber auch mehr Investitionen in Menschen und ihre Qualifikationen.“ Dazu gehöre auch die Vollendung der so genannten Kapitalmarktunion. Damit soll ein EU-Binnenmarkt für Kapital geschaffen werden. Investitionen und Ersparnisse sollen zwischen sämtlichen Mitgliedstaaten frei fließen können. Bezogen auf den EU-Haushalt sagte von der Leyen: „Wir brauchen mehr Investitionskapazitäten. Unser neuer Haushalt muss noch stärker werden. Er muss mehr auf die Politik ausgerichtet, für die Mitgliedstaaten einfacher und wirkungsvoller sein, so dass wir seine volle Kraft nutzen können, um mehr private und öffentliche Mittel zu mobilisieren.“
MIT DEN DEUTSCHEN NICHT ZU MACHEN
Gemeinsamer Haushalt, gemeinsame Schulden – die Deutschen waren lange die größten Bremser dieser Idee, man denke an das Desaster mit Griechenland. Dennoch wurden die Defizitregeln immer wieder ausgesetzt, zuletzt in der Corona-Pandemie. Es folgte der russische Angriff auf die Ukraine, und die Aussetzung wurde verlängert. Jetzt macht die Kommission wieder Druck. Aber, man kann sagen, eher halbherzig. Mit den absehbar sinkenden Zinsen werden Kredite als Instrument wieder attraktiver, um den enormen Investitionsbedarf zu decken. Wenn man die USA zum Vorbild nimmt, muss man auch das erwähnen: Deren Neuverschuldung wird 2024 sage und schreibe 11 Prozent betragen. Wenn Europa hier nachziehen will, dann geht dies nur mit einem klaren Bekenntnis zu einer gemeinsamen Fiskalpolitik, sprich: auch gemeinsamen Schulden. Von der Leyen widerspricht hier ganz klar dem Europawahlprogramm ihrer Partei, der CDU. Die erteilt darin einer Schuldenunion eine klare Absage. Sollte im nächsten Jahr in der Bundesrepublik eine CDU-geführte Bundesregierung an die Macht kommen, dürfte es mit europäischen Mehrinvestitionen schwierig werden.
Was in diesem Fall auf die EU zukommen könnte, zeigt Mario Draghi in klaren Worten: „Wenn Europa nicht produktiver werden kann, werden wir uns entscheiden müssen. Wir werden nicht in der Lage sein, gleichzeitig ein Vorreiter bei neuen Technologien, ein Leuchtturm der Klimaverantwortung und ein unabhängiger Akteur auf der Weltbühne zu werden. Wir werden unser Sozialmodell nicht finanzieren können. Wir werden einige, wenn nicht alle unserer Ambitionen zurückschrauben müssen.“ Was das heißt, kann man sich ausmalen: Europa würde im Vergleich zu den globalen Mächten zurückfallen – wenn es hart auf hart kommt, bis in die Bedeutungslosigkeit.