»So, das macht dann 600 Milliarden Euro ...«

Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden hat es noch einmal überdeutlich vor Augen geführt: In Sachen Infrastruktur hat Deutschland gewaltigen Nachholbedarf. Ein Streiflicht.

Illustration: Josephine Warfelmann
Illustration: Josephine Warfelmann
Kai Kolwitz Beitrag

Die deutsche Infrastruktur ist in ihrem Kern sanierungsbedürftig. Das ist keine neue Feststellung, nur werden die nötigen Maßnahmen immer weiter hinausgeschoben. Wir wagen einen Blick auf Kostenprognosen in den großen Teilbereichen.
 

DIE BAHN

Noch vor relativ kurzer Zeit hatte die Bahn große Ziele formuliert: Ein „Deutschlandtakt“ mit besseren Anschlüssen, dichtere Takte auf vielen Fernverkehrsstrecken, Verdopplung der Passagierzahlen im Fernverkehr auf 300 Millionen Menschen pro Jahr. Doch derzeit scheint das Unternehmen mit dem laufenden Betrieb schon heillos überfordert zu sein: So hatte im vergangenen Jahr jeder dritte Fernzug Verspätung, Komplettausfälle nicht mitgerechnet. 

Marode Infrastruktur hat einen großen Anteil an der Misere: Im aktuellen Netzzustandsbericht bescheinigt sich die Bahn-Tochter DB-Infrago einen Erneuerungsbedarf von gut 90 Milliarden Euro – für Anlagen wie Weichen, Übergänge oder Stellwerke, die mindestens mittelfristig erneuert werden müssen. Weitere knapp 18 Milliarden Euro kommen für sanierungsbedürftige Bahnhöfe hinzu. 

Um der Lage Herr zu werden, hat das Unternehmen mit einer Rosskur begonnen: Bis 2030 sollen 40 besonders hoch belastete Streckenabschnitte für je mehrere Monate gesperrt und grundsaniert werden, derzeit macht die Bahn in der Oberrheinischen Tiefebene zwischen Frankfurt und Mannheim den Anfang. Außerdem wurde zuletzt das Gegenteil des „Deutschlandtakts“ diskutiert – weniger Züge, die dafür aber pünktlicher. 
 

DAS STRASSENNETZ

Im Bereich Straßen ist der Investitionsbedarf nicht leicht zu beziffern – schließlich fallen sie wahlweise in die Zuständigkeit von Bund, Ländern oder Kommunen. Trotzdem können Zahlen einen Anhaltspunkt liefern: Auf 39 Milliarden Euro beziffern das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und die Hans-Böckler-Stiftung in einer gemeinsamen Studie den kommenden Aufwand für Erhaltung und Ausbau der Bundesfernstraßen.

Dass es auf den Autobahnen viel nachzuholen gibt, das sieht jeder, der dort häufiger unterwegs ist: Tempolimits und Gewichtsbegrenzungen sind bei Brücken eine häufige Angelegenheit. Die Instandhalter stehen vor dem Problem, dass praktisch alle großen Autobahnbrücken in den alten Bundesländern aus den Sechziger bis Achtziger Jahren stammen und dementsprechend innerhalb kurzer Zeit fast gleichzeitig das Ende ihrer Lebensdauer erreichen – eine gewaltige Aufgabe. 

Laut dem letzten Zustandsbericht 2021/22 sind gut 7.000 Kilometer Autobahn sanierungsbedürftig und nach aktuellen Informationen aus dem Verkehrsministerium gut 8.000 Brücken. Bei der kommunalen Infrastruktur kam das Deutsche Institut für Urbanistik auf einen Investitionsbedarf für Straßen und Öffentlichen Nahverkehr von 372 Milliarden Euro. 
 

DIE ENERGIEVERSORGUNG

Die Energiewende ist ein großer Kostentreiber. Deutschland kann seinen Strombedarf derzeit zu rund 60 Prozent aus Sonne, Wind und ähnlichem decken. Bis zum Jahr 2030 soll der Wert auf 80 Prozent steigen. Dazu sind nicht nur Investitionen in neue Windräder und Solaranlagen nötig, sondern vor allem auch in Fernleitungen, um Strom aus dem windreichen Norden in den Süden des Landes zu transportieren. Auf der lokalen Ebene müssen Netze gestärkt und ertüchtigt werden, damit immer mehr Wärmepumpen und Ladestationen für E-Autos mit Strom versorgt werden können. Außerdem soll ein Leitungsnetz für Wasserstoff entstehen, das helfen soll, die Industrie klimaneutraler zu machen.

Die Kreditanstalt für Wiederaufbau rechnet mit 300 Milliarden Euro für den Netzausbau bis 2050. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft spricht von 600 Milliarden Euro, um die Klimaziele bis 2030 zu erreichen, der Verband rechnet hier allerdings auch Bereiche wie Erzeugung, Wasserstoff und Wärme mit ein. IW und Hans-Böckler-Stiftung setzen für den Bereich Dekarbonisierung (also die Vermeidung von CO2) 200 Milliarden Euro für die kommenden zehn Jahre an.
 

DIE WASSERSTRASSEN

Ohne sie würde wenig gehen, gerade wenn es um den Transport von Massengütern geht. In Deutschland sind rund 7.500 Kilometer Binnenwasser für große Frachter benutzbar, davon drei Viertel Flüsse und ein Viertel Kanäle. Hinzu kommen etwa 23.000 Quadratkilometer Seewasserstraße vor der Küste. Nach den Plänen der Bundesregierung sollen im Jahr 2030 zwölf Prozent aller Güter übers Wasser transportiert werden. Das ist fast doppelt so viel wie heute.

Auch hier bemängeln Verbände Investitionsstau. Die Initiative System Wasserstraße (ISW) nennt für Sanierung und Ausbau eine Zahl von zwei Milliarden Euro pro Jahr. Der Bundesverband der Deutschen Binnenschifffahrt (BDB) kommt auf 2,5 Milliarden. Derzeit investiert der Bund allerdings nur rund 750 Millionen für Investitionen, knapp 1,8 Milliarden Euro insgesamt. In letzterem sind auch Instandhaltung und laufende Betriebskosten enthalten. 
 

DIE VERTEIDIGUNG

Die dramatisch geänderte Weltlage sorgt dafür, dass mehr Geld benötigt wird als früher veranschlagt. Die Bundeswehr selbst beziffert ihren Investitionsbedarf auf rund 300 Milliarden Euro. Kein Wunder, dass das nach Beginn des Ukrainekriegs organisierte Sondervermögen von 100 Milliarden Euro spätestens 2028 aufgebraucht sein soll. Für die Zeit danach rechnen Experten mit einer jährlichen Finanzierungslücke von 40 Milliarden bis über 50 Milliarden Euro. 

2025 soll der Verteidigungsetat bei rund 53 Milliarden Euro liegen. Damit würde Deutschland das von der NATO geforderte Ziel von zwei Prozent des Gesamthaushalts schaffen. Die Zeit aber, in der seit dem Zerfall der Sowjetunion die so genannte „Friedensdividende“ kassiert und die Verteidigungsausgaben reduziert wurden, dürfte bis auf weiteres nicht wiederkommen.
 

FAZIT

Laut IW und Hans-Böckler-Stiftung beträgt der Sanierungsbedarf etwa 600 Milliarden Euro für die kommenden zehn Jahre. Wer sich die Kostenprognosen der Teilbereiche anschaut, stellt fest: Der realistische Bedarf wird wohl weit höher liegen. Zudem sind Verwaltung, Schulen, Kliniken, Grünflächen, Freizeitbereiche hier noch gar nicht einbezogen. Welche Regierung immer sich vornimmt, den Sanierungsstau aufzulösen: Sie wird starke Nerven brauchen.

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