Weiterhin viel Gründergeist

Trotz Dauerkrise wird in Deutschland weiterhin gegründet. Von mutigen Menschen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben und sich von schwierigen Rahmenbedingungen nicht abschrecken lassen. Wichtige Felder sind Künstliche Intelligenz, Nachhaltigkeit und die Energiewende. Sie bieten Start-ups wie etablierten Unternehmen die Möglichkeit, echten Unternehmergeist zu beweisen.

Illustration: Sophie Mildner
Illustration: Sophie Mildner
Jost Burger Redaktion

Im April 2022 war die Welt der deutschen Start-ups noch in Ordnung. Damals stellte der Branchendienst startupdetector zum dritten Mal Zahlen und Fakten über die deutsche Start-up-Szene vor. Ein zentrales Ergebnis: 2021 wurden 11 Prozent mehr an jungen und innovativen Unternehmungen gegründet als im Jahr davor. Heute, ein Jahr später, hat sich die Lage ein wenig eingetrübt. Laut der neuesten Ausgabe des Berichts, den der Informationsdienst zusammen mit dem Startup-Verband zu Beginn dieses Jahres vorstellte, sank die Zahl der neugegründeten Start-ups 2022 um 18 Prozent. Und auch das statistische Bundesamt vermeldet für 2022 einen Rückgang der Neugründungen, zählt dabei unter anderem auch die Zahl der Kleingewerbe- und Nebentätigkeitsgründungen mit.


Wer heute gründet, beweist besonders viel Unternehmergeist
 

Ist den Deutschen der Unternehmergeist abhandengekommen? Nein, sagt die stellvertretende Startup-Verbandsvorsitzende Magdalena Oehl: „Gegen die schwierige konjunkturelle Lage ist auch das Start-up-Ökosystem nicht immun.“ Anders gesagt: Auch der engagierteste Gründer hat nur begrenzt Einfluss auf die ökonomische Großwetterlage. Und Venture-Capital-Geber sind vorsichtig geworden und schauen vor einer Investition genauer auf die Erfolgsaussichten, das gilt nicht nur in Deutschland. Ein Land, das sei zugegeben, das auch mit anderen Herausforderungen aufwartet. Schon immer wird die langsame Bürokratie hierzulande beklagt. Und mittlerweile ist nicht mehr nur vom Fachkräftemangel, sondern vom generellen Mangel an Arbeitskräften die Rede, der auch Gründerinnen und Gründern zu schaffen macht. Immer wieder wird auch ein Mentalitätswechsel gefordert.

Sarna Röser etwa, Bundesvorsitzende des Wirtschaftsverbandes Die Jungen Unternehmer, sagt: „Die Angst vor dem Misserfolg ist in Deutschland viel zu verbreitet. Viele Absolventen zweifeln daran, dass sie es aus eigener Kraft schaffen können, ein Unternehmen aufzubauen.“ Es brauche Vorbilder – und mehr Gründerwissen, das bereits an der Schule vermittelt wird. „Wir müssen feiern, wenn jemand freiwillig ins Risiko geht. Und eine zweite Chance ermöglichen, wenn die Idee nicht aufgeht.“

Nein, den Deutschen ist der Gründergeist nicht abhandengekommen. Noch immer werden im Schnitt 60 neue Start-ups pro Woche (!) gegründet, sagt der eingangs erwähnte Branchendienst startupdetector. Ein mögliches Zwischenfazit kann also lauten: Wer heute gründet, beweist sogar besonders viel Unternehmergeist. Und Deutschland gehört immer noch zu den beliebtesten Gründungsstandorten im europäischen Vergleich. Wobei übrigens München innerdeutsch im vergangenen Jahr erstmals Berlin überholt hat: Die bayerische Landeshauptstadt lag mit 14,5 Gründungen pro 100.000 Einwohner 2022 erstmals vor Berlin (13,6). Das dürfte laut Branchenverband auch am „universitätsnahen Ökosystem“ liegen. Dazu passt die Ankündigung von Apple, sein in München ansässiges europäisches Zentrum für Chip-Design mit einer Milliarde Euro und drei neuen Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen auszubauen. Das Unternehmen kooperiert bereits heute in mehreren Projekten mit der Technischen Universität München (TUM).

»Wir müssen feiern, wenn jemand freiwillig ins Risiko geht. Und eine zweite Chance ermöglichen, wenn die Idee nicht aufgeht.«

 

Illustration: Sophie Mildner
Illustration: Sophie Mildner
Illustration: Sophie Mildner
Illustration: Sophie Mildner
Illustration: Sophie Mildner
Illustration: Sophie Mildner

Künstliche Intelligenz und Nachhaltigkeit auf dem Vormarsch

 

Doch in welchen Bereichen finden sich in Deutschland besonders viele Start-ups? Laut Bundesverband nahmen die Gründungen, deren Geschäftsidee auf der Blockchain-Technologie basieren, 2022 um 65 Prozent zu, Gründungen im Bereich Nachhaltigkeit um 14 Prozent. Hier bietet zum Beispiel eine Gründung aus Berlin eine Browsererweiterung an, die beim Onlineshoppen automatisch nach klimafreundlichen Produkten sucht. Eine Bonner Truppe stellt eine App vor, die auf der Grundlage vorhandener Lebensmittelreste Rezepte zusammenstellt und die Lebensmittel so vorm Wegwerfen bewahrt, ein Hamburger Start-up gibt Onlinehändlern die Möglichkeit, über ein Pfandsystem wiederverwertbare Versandpackungen zu nutzen.

Und auch die Künstliche Intelligenz (KI) wird immer mehr zum Innovationstreiber. Ein Berliner Start-up etwa wertet Kameradaten in Geschäften mithilfe von KI datenschutzkonform aus, um herauszufinden, was in einer Filiale gerade vor sich geht. Ein Start-up aus München hat eine Technologie entwickelt, um KI-basiert Blutproben auf eventuell vorliegende Krankheiten zu untersuchen. Zugleich ändert sich die Rolle der KI grundsätzlich. Schon seit vielen Jahren werden selbstlernende, neuronale Netze bei der Auswertung großer Datenmengen eingesetzt – in der Medizin ebenso wie in der Industrie 4.0 oder der Analyse von Käuferverhalten. KI übernimmt mittlerweile immer mehr Standardprozesse, die früher Menschen abgewickelt haben. Etwa die Abwicklung von Schadensfällen bei Versicherern oder die Kommunikation mit Kunden via Chatbot. Was in Zukunft wichtig wird: Wie gehen wir mit dem Einzug von KI in das tägliche Leben um? Welche Folgen hat es, wenn Suchmaschinen Antworten mithilfe von Künstlicher Intelligenz generieren? Wie sorgen wir dafür, dass wir dieser „Intelligenz“ – die ja keine ist, sondern ein statistisches Modell – trauen können? Fraglos tun sich hier neue Geschäftsfelder für Unternehmen auf, die auf den Faktor Mensch in der Mensch-Maschine-Kommunikation setzen.
 

Unternehmergeist für die Energiewende
 

Apropos Nachhaltigkeit: Die Energiewende ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Bis 2030 soll 80 Prozent des deutschen Bruttostromverbrauchs aus erneuerbaren Quellen stammen. Der sich bis dahin, schätzt Bundeswirtschaftsminister Habeck, auch noch um 30 Prozent erhöhen dürfte. Zugleich soll an anderen Stellen Energie gespart werden, etwa beim Heizen oder im Verkehrssektor. Start-ups ebenso wie etablierten Unternehmen bietet sich hier die Chance, mit echtem Unternehmergeist neue Lösungen auf den Markt zu bringen. Die Bauwirtschaft etwa spielt eine zentrale Rolle bei der Errichtung energieeffizienter Gebäude, bei der Sanierung des Bestands, beim Ausbau von Schienen- und Wasserwegen und bei der Lösung der Wohnungsnot in den Städten. Bei der Stromversorgung bedarf es Mut und Erfindergeist, um die Ladeinfrastruktur für die Elektromobilität auszubauen und die Produktion energieeffizient zu gestalten. Gleiches gilt für die Erzeugung: Woher kommt der Strom, der zum Beispiel für all die Wärmepumpen gebraucht wird, die laut den Regierungsplänen für die Wärme in unseren Wohnungen sorgen sollen? Wie versorgen wir all die geplanten Elektroautos, wenn ab 2035 keine Verbrennerautos mehr zugelassen werden dürfen? Genossenschaftliche Konstrukte, neue Technologienansätze und innovative Modelle der Privatwirtschaft, etwa zur Nutzung von landwirtschaftlichen Flächen für Photovoltaikanlagen, zeugen hier von echtem Gründergeist.

Den es auch in der Logistik oder dem digitalen Handelsmarketing braucht. Der Transport auf der Straße ist weiterhin essenziell für die Versorgung von Industrie und Handel. Stetige Innovation, etwa bei der Entwicklung von Leichtbaufahrzeugen oder der Umrüstung auf umweltfreundliche Antriebe, sind hier bedeutende Innovationsfelder. Digitale Lösungen für immer komplexer werdende Logistikprozesse ebenso. Getrieben zum Beispiel durch den Online-Handel. Auch die Rückkehr zur Nach-Corona-Realität tut der Aufwärtsentwicklung der Branche keinen Abbruch. Millionen von Menschen haben sich daran gewöhnt, Artikel des täglichen Gebrauchs im Internet zu bestellen. Das führt zu immer aufwändigeren und lokal wie regional kleinteiligeren Prozessen bei der Lagerhaltung und im Fulfillment. Schnell implementierbare, leicht skalierbare Anwendungen aus der Cloud können hier die Lösung sein. Und wenn es um das zielgenaue, personalisierte Marketing im Einzelhandel geht, sind diejenigen Unternehmen gut gerüstet, die ihre Organisation mutig auf die neue Welt des kombinierten Offline- und Onlinehandels umstellen – und dafür mehr noch als bisher Nutzerdaten analysieren, um diesen das optimale Einkaufserlebnis über alle Kanäle zu bieten. Neue Technologien sorgen zudem auch hier für Umbruch. So wird es zur Normalität werden, Produkte virtuell erst einmal auszuprobieren, bevor die Kaufentscheidung fällt. Und das nicht nur online und zuhause, sondern auch in der Filiale vorm (virtuellen) Spiegel.
 

Arbeitskräfte finden – und halten
 

Zugleich stehen Gründungen vor den ganz normalen Herausforderungen, mit denen jedes Unternehmen zu kämpfen hat. Zum Beispiel die Demografie. Immer mehr offenen Stellen stehen immer weniger qualifizierte Arbeitskräfte gegenüber. Auch das gehört deshalb zum Unternehmergeist: Arbeitskräfte zu finden, und sie dann auch zu halten. Gut beraten ist, wer die junge Generation richtig anzusprechen weiß und die Anforderungen kennt, die sie an den Arbeitsplatz stellt. Und sich bewusst ist, dass Mitarbeitende schon längst nicht mehr durch kostenlosen Kaffee und den obligatorischen Obstkorb zu halten sind. Gefragt sind individuelle Anreize, ein gesunder Arbeitsplatz, und das Angebot, beständig wachsen zu können – etwa durch Fortbildungsmaßnahmen, die das Fachwissen up to date halten und auch die persönliche Entwicklung voranbringen.

In der Tat: Wer heute gründet, beweist besonders viel Unternehmergeist. Steht für das, was den Menschen immer schon ausgemacht hat: Neugier, Zuversicht, den Mut, etwas zu wagen. Dafür braucht es Menschen, die angesichts der globalen Herausforderungen nicht verzagen. Sondern in ihnen weiterhin die Möglichkeit sehen, Probleme zu lösen, Bedürfnisse zu befriedigen, daran zu arbeiten, unser aller Leben einfacher zu machen. Dieser Unternehmergeist wird sich in Deutschland auch weiterhin behaupten.