Arbeit braucht ein Upgrade

Wenn Arbeitskräfte Mangelware sind, muss Arbeit neu gedacht werden. Das fängt beim Recruiting an, geht über die Definition des Arbeitsplatzes und umfasst selbstverständlich auch die so wichtige Bindung an ein Unternehmen.

Illustration: Sophie Mildner
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Julia Thiem Redaktion

Fachkräftemangel, Arbeiterlosigkeit oder gar Fachkräfteflucht – Begriffe für die demografisch bedingte Knappheit an Talenten auf dem Arbeitsmarkt gibt es viele. Was in den 1970ern begann – damals unterschritt die Geburtenrate das kritische Niveau von 2,1 Geburten pro Frau –, fand 2020 fast unbemerkt von der Öffentlichkeit seinen vorläufigen Höhepunkt: Das Bevölkerungswachstum stagniert und wird in den kommenden Jahren bei einer Geburtenrate von mittlerweile 1,53 Kindern pro Frau zwangsläufig zurückgehen.

Für den Arbeitsmarkt bleibt das nicht ohne Folgen. Stepstone-CEO Sebastian Dettmers schreibt in seinem Buch „Die große Arbeiterlosigkeit“: „Bis zum Ende dieses Jahrhunderts werden ein Drittel weniger Menschen in Deutschland arbeiten.“ Und die Auswirkungen seien bereits heute zu spüren. Wer aktuell versuche, eine offene Stelle zu besetzen, brauche dafür im Schnitt vier Monate. Viele Unternehmen seien bereits heute aufgrund des Fachkräftemangels gezwungen, Aufträge abzulehnen.
 

Kreativität ist gefragt
 

Oder aber sie werden deutlich kreativer in ihrem Recruiting. Denn mittlerweile sind es die Unternehmen, die sich bei den wirklich guten Talenten bewerben. Recruiting hat daher mittlerweile etwas von einem Relationship-Management, wo die Personalabteilungen möglichst früh versuchen, den Kontakt zu den heranrückenden Generationen herzustellen, um sich bereits in den Schulen und Universität als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren. Oftmals spielt auch die regionale Komponente eine wichtige Rolle im Recrui-ting. Hier können sich Unternehmen beispielsweise stark für eine bestimmte Region engagieren, sodass es die jungen Talente gar nicht erst in die Ballungsgebiete zieht. Getreu dem Motto: Zuhause sind die Jobs immer noch am schönsten.

Aber auch immer mehr Technik findet Einzug in den Recruiting-Prozess. So hat beispielsweise das Berliner Start-up Empion im vergangenen Sommer eine Pre-Seed-Finanzierung über 2,4 Millionen Euro von Venture-Capital-Gebern und Angelinvestoren aus der Tech-Branche erhalten. Damit soll der von Empion entwickelte KI-basierte Robo Advisor weiter ausgebaut werden. Robo Advisor heißt in diesem Fall: Ein automatisiertes Matching von Unternehmen und Bewerbern auf Basis von Unternehmenskultur, Werten und Fähigkeiten. Denn Kultur und Werte werden gerade für das Recruiting jüngerer Generationen wichtiger. Das Mindset muss passen und die Mitarbeitenden müssen sich wohl fühlen, dann sind Gehalt und andere Benefits eher nebensächlich, sagen Forscher beispielsweise über die berühmte Generation Z.

Illustration: Sophie Mildner
Illustration: Sophie Mildner

Sich allerdings nur auf die Generation Z im Recrui-ting zu fokussieren, wäre für Unternehmen zu kurz gedacht. Fachkräfte aus dem Ausland und ältere Mitarbeitende können ebenfalls ein Weg aus der Arbeiterlosigkeit sein. Wichtig ist hierbei, auf die jeweiligen Bedürfnisse dieser Zielgruppen einzugehen – etwa indem verstärkt auf Remote-Arbeit oder auch flexible Modelle gesetzt wird. Drei Tage die Woche betriebstreue, zuverlässige und erfahrene Mitarbeitende älteren Jahrgangs im Haus zu haben, ist besser als monatelang niemanden für eine Position zu finden.
Und zu guter Letzt werden HR-Verantwortliche auch auf den diversen Social-Media-Kanälen immer aktiver. Social Influencing heißt dieser Trend und kann von der Geschäftsführung bis in die Ausbildungsjahrgänge reichen. Ziel ist es, ein möglichst authentisches Bild vom Arbeitsalltag im Unternehmen aufzuzeigen.
 

Nach Finden kommt Halten
 

Die passenden Talente zu finden, ist für Unternehmen allerdings nur die halbe Miete. Prognosen zufolge werden Menschen aus der Generation Z rund 20 Arbeitgeber im Laufe ihres Berufslebens haben. Die Babyboomer waren mit durchschnittlich 1,3 Arbeitgebern dagegen vergleichsweise treu. Die eigentliche Kunst wird es in Zukunft also sein, Mitarbeitende auch zu halten.

Dabei zählt die Entlohnung nach wie vor zu den Topnennungen der Instrumente zur Mitarbeiterbindung, wie der HR-Report 2023 von Hays offenlegt. Eine marktgerechte Entlohnung wird von 56 Prozent der Befragten als zentrales Bindungsinstrument wahrgenommen. Ebenfalls hohe Zustimmungswerte erhalten die zur Auswahl gestellten Themen aus dem Bereich „Compensation & Benefits“, wie die Beteiligung der Beschäftigten am Unternehmenserfolg, die Transparenz des Gehaltsgefüges und die qualifikationsorientierte Entlohnung. Dabei wird die Leistungsorientierung (51 Prozent) als Bindungsfaktor höher gewichtet als die Qualifikationsorientierung (36 Prozent).

Diese Einschätzung deckt sich mit Studienergebnissen der Unternehmensberatung Deloitte. Die Daten der Studie „Human Capital Trends 2023“ zeigen, dass 59 Prozent der Befragten von einer Neugestaltung des Arbeitsplatzes in den kommenden zwei bis vier Jahren ausgehen. 93 Prozent sind der Meinung, dass eine Abkehr von der konventionellen Definition des Arbeitsplatzes für den Erfolg des eigenen Unternehmens relevant oder sehr relevant sei. Für viele Unternehmen rücken Skills daher zunehmend an die Stelle von Stellenbeschreibungen. Oder anders ausgedrückt: tatsächliche Leistung schlägt formale Qualifikationen und Anforderungen.

Darüber hinaus tragen auch zusätzliche Anreize zur Bindung an ein Unternehmen bei. Zu nennen ist hier sicherlich ein umfassendes Gesundheitsangebot, dass bei der vergünstigten Mitgliedschaft im regionalen Fitnessstudio beginnt, den obligatorischen Obstkorb, ergonomische oder gesundheitsfördernde Büromöbel umfasst und bis hin zu einer betrieblichen Krankenversicherung reichen kann. Was dahinter steckt: Wertschätzung. Die Belegschaft erfährt, dass sie dem Arbeitgeber wichtig ist.

Letztendlich geht es für Unternehmen heute aber darum, Arbeit neu zu definieren. Oder, wie es Dettmers in seinem Buch formuliert: Es brauche „nicht weniger als eine Revolution, eine Revolution in den Köpfen.“ Für den Weg aus der Arbeiterlosigkeit benötigten wir ein Upgrade der Arbeit, einen Produktivitätsboost, der uns schon vor einem Vierteljahrtausend aus der Armutsfalle geführt habe, schreibt Dettmers, und meint damit die industrielle Revolution ab dem Ende des 18. Jahrhunderts. Klingt doch irgendwie machbar.
 

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