Die Stadt muss noch viel lernen

Die „Smart City“, die intelligente Stadt der Zukunft, soll vollautomatisiert funktionieren, gesteuert von einer Künstlichen Intelligenz. Was in Forschungsprojekten bereits erfolgreich erprobt wird, ist in der Umsetzung allerdings noch vielfach Zukunftsmusik.

Illustration: Martin Schumann
Illustration: Martin Schumann
Julia Thiem Redaktion

Welcher Autofahrer, welche Autofahrerin kennt es nicht: Gerade in Großstädten schafft man es selten über zwei grüne Ampeln am Stück. Auf schwierigen Abbiegespuren mit Gegenverkehr kommen manchmal nur zwei Fahrzeuge während einer Ampelphase weiter oder ein Lkw – wenn es gut läuft. Das liegt daran, dass die Ampeln in Städten zwar nach einem System geschaltet sind, aber nicht das Verkehrsaufkommen berücksichtigen. Wohl auch deshalb ist die Vision, dieses Problem mit Hilfe der Digitalisierung zu lösen, nicht neu. Die Hansestadt Lübeck hat beispielsweise bereits 2008 das Programm „Staufrei 2015“ ins Leben gerufen, bei dem über einen zentralen Computer eine intelligente Ampelschaltung gesteuert werden sollte. 

„Sollte“ hieß dann aber noch lange nicht „wurde“. Die Hanseaten waren offenbar das, was man gemeinhin als „vor ihrer Zeit“ bezeichnet. Denn erst heute, also knapp 16 Jahre später, wird das Projekt tatsächlich umgesetzt, auf drei Teststrecken und mit 3,2 Millionen Euro Förderung vom Bund. Unter dem Namen „Lübeck VIAA: Verkehrsmanagementsystem – Intelligent – Analytisch – Agil“ will Lübeck als eine der ersten Städte mit einem Verkehrsrechnersystem in Echtzeit bundesweit einen neuen Weg beschreiten. Dabei soll das System den Verkehr nicht nur überwachen und steuern, sondern auch vorausschauend berechnen. Heißt: Das System berücksichtigt nicht nur die aktuelle Verkehrssituation, sondern bezieht zum Beispiel die Fahrplanlage jedes einzelnen Busses und/oder die Schaltungen der vorausliegenden Ampeln in die Berechnungen mit ein. Dadurch wird es möglich, nicht nur den Verkehrsfluss allgemein zu verbessern, sondern insbesondere auch den ÖPNV zu beschleunigen. Ähnliche Ansätze gibt es in anderen Städten für Feuerwehr und Krankenwagen, die intelligent gesteuert im Stadtverkehr reibungslos und damit schneller am Einsatzort ankommen sollen.
 

OHNE KI GEHT ES NICHT


Schon beim Durchdenken dieser Ideen wird klar: Hier muss Künstliche Intelligenz ins Spiel kommen. Anders lassen sich derart große Datenmengen kaum in Echtzeit verarbeiten. Und spätestens, um Vorhersagen auf Basis dieser „Big Data“ treffen zu können, braucht es dann selbstlernende Algorithmen. Daran arbeitet das Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB seit 2022. In den beiden Projekten „KI4LSA“ und „KI4PED“ entwickeln Wissenschaftler eine KI, die eine vorausschauende Ampelschaltung ermöglicht. Im Projekt „KI4LSA“ erfasst hochauflösende Kamera- und Radarsensorik das Verkehrsgeschehen und regelt den Verkehr in Echtzeit. In Kombination mit Künstlicher Intelligenz und Algorithmen des Deep Reinforcement Learning sollen das beste Ampel-Schaltverhalten und die beste Phasenfolge ermittelt werden. Und im Projekt „KI4PED“ wird, wie das Kürzel schon vermuten lässt, ein neuer Ansatz zur Steuerung von Fußgängerampeln für die „Pedestrians“ erforscht. Beide Projekte haben eine Laufzeit von 30 Monaten. Dennoch ist seit Juli dieses Jahres mit KISLEK bereits eine Weiterführung gestartet, in deren Rahmen erprobt wird, wie mehrere miteinander verbundene Verkehrsknoten über die KI gesteuert werden können.
 

FORTSCHRITT BRAUCHT ZEIT


Schaut man sich allerdings den rasanten Durchmarsch der KI in den vergangenen Monaten an, ist es fast verwunderlich, dass die Umsetzung einer vermeintlich einfachen Aufgabe wie die der Ampelschaltung dermaßen lange zu dauern scheint. Allerdings liegen die Gründe dafür auf der Hand: Verkehr ist superkomplex. Schließlich gibt es in einer Großstadt nicht nur eine, sondern, beispielsweise in Berlin, über 2.000 Ampeln. Und die sind nur eine Komponente von vielen, die es in puncto Verkehr und damit von der KI zu managen gilt. Und dann geht es am Ende des Tages auch immer um Menschenleben. Beides macht Projekte wie beispielsweise das in Lübeck teuer. Fünf Millionen Euro sind für die drei Teststrecken mit nur wenigen Ampeln veranschlagt, wovon der Großteil in ein noch aufzubauendes Sensornetz und Datenmanagement fließen wird. 

Beides sind wichtige Punkte, wenn es um die Herausforderungen geht, die es auf dem Weg in einer wirklich KI-getriebene Stadt der Zukunft noch zu lösen gilt. Denn aktuell fehlt meist vor allem eine solide technologische Basis. Nehmen wir die Verwaltung als Beispiel. 2021 hat der Verein „Co:Lab Denklabor & Kooperationsplattform für Gesellschaft & Digitalisierung“ eine Studie zum Potenzial von KI in Kommunen veröffentlicht. Die Quintessenz in einem Satz: „In Bezug auf die Digitalisierung im Allgemeinen und die Nutzung von KI im Speziellen ist noch viel zu tun.“ Schon im Vorwort der Studie versucht sich Prof. Dr. Katharina Zweig vom Algorithm Accountabily Lab der TU Kaiserslautern an einem realistischen Erwartungsmanagement: „Wir sollten uns heute um andere Fragen kümmern, nämlich um die Frage, welche realistischen Chancen die aktuelle KI für Kommunen bietet.“ Hier habe sich in den letzten Jahren zwar viel getan, wobei Zweig vor allem auf Routinearbeiten verweist, die inzwischen „ziemlich zuverlässig von Maschinen übernommen werden können.“ Ihr nüchternes Fazit zur „sogenannten KI“: „Sie mag noch nicht intelligent sein, aber sie ist ein wichtiges Werkzeug, um Texte, Sprache und Bilder besser zu verarbeiten.“
 

KOMMUNALE PILOTEN GESTARTET


Wirklich flächendeckend angekommen in den Kommunen ist die KI demnach bislang nicht – auch, weil gerade dort die Digitalisierung hinterher hängt, wie spätestens die Corona-Pandemie noch einmal nachdrücklich aufgezeigt hat. Das soll sich nun jedoch mit diversen Pilotprojekten ändern, die in zahlreichen Städten derzeit ins Leben gerufen werden. So wurde beispielsweise in Gelsenkirchen jetzt im Juli das Anwendungszentrum „Künstliche Intelligenz für kommunale Lösungen“ gegründet. Es soll helfen, das Potenzial von Künstlicher Intelligenz für kommunale Verwaltungen identifizieren und einschätzen zu können, sowie bundesweit auch anderen Kommunen zugutekommen. Auch hier sind alleine für die erste Projektphase bis 2025 fünf Millionen Euro veranschlagt, die zu 90 Prozent im Rahmen der Modellprojekte Smart Cities vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen gefördert werden. 

Bis der Chatbot uns durch den Bürgerservice lotst, der Reisepass automatisch erneuert wird, es sei denn, wir widersprechen – Opting-out liegt derzeit im Trend – oder gar Papierformulare endgültig der Vergangenheit angehören, dürfte es also leider noch dauern. Dass es grundsätzlich möglich ist, zeigt jedoch EU-Digitalvorbild Estland. Dort gibt es nicht nur den elektronischen Personalausweis verpflichtend seit 2001, sogar 99,9 Prozent aller staatlichen Dienstleistungen können online in Anspruch genommen werden. Ein Haus kaufen, das Haustier anmelden, einen Heiratsantrag ausfüllen oder wählen gehen – alles passiert in Estland im Netz.
 

WO ANFANGEN?


Estland wird in vielen Bereichen als Vorbild in Sachen Digitalisierung herangezogen. Das liegt vor allem daran, dass die dortige Regierung nach dem Zerfall der Sowjetunion einen Großteil der Infrastruktur komplett neu aufbauen musste – darunter beispielsweise die öffentliche Verwaltung. Und auf einem mehr oder weniger weißen Blatt Papier Prozesse und Strukturen mit Hilfe des aktuellen Stands der Technik neu aufzubauen, ist natürlich wesentlich leichter, als jahrzehntelang gewachsene Strukturen mit all ihren teils skurrilen Auswüchsen während des laufenden Betriebs zu transfomieren.

Da liegt die Frage nahe, ob es hierzulande wirklich sinnvoll ist, in kleinen Projekten in den jeweiligen Sektoren neue Technologien wie Künstliche Intelligenz losgelöst vom Gesamtkonstrukt einer Stadt zu erproben, oder aber die Technologie gleich im Großen mitzudenken, etwa bei der Stadtplanung. Top-down versus Bottom-up quasi. Darüber haben auch Stadtplaner und Architekten im April auf ihrer diesjährigen Leitmesse Polis Convention diskutiert – vor allem im Rahmen des Themenforums „KI in der Stadtplanung“. Zur Art und Weise, wie Künstliche Intelligenz die Stadtplanung verändern könnte, zog Tobias Walliser, Professor für Digitales Entwerfen an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, den Vergleich zwischen den Brettspielen Schach und Go: „Während bislang – wie bei Schach-Figuren – Funktionsweisen von Parametern relativ fest vorgegeben waren, müssen Planer beim Einsatz von KI vielfältige Korrelationen erkennen – so wie Go-Steine ihre Wertigkeit aus der Position im Feld und in Beziehung zu den Nachbarfiguren erhalten.“ 

Um dieser Komplexität Herr zu werden, müsste die Gesellschaft erst einmal entscheiden, auf welche Frage die Künstliche Intelligenz überhaupt eine Antwort sein soll – oder vielmehr kann, ist sich Walliser sicher. Und auch in der Lehre, zeigte sich in dem Vortrag, spielt KI bisher noch eine eher untergeordnete Rolle und wird bestenfalls als Zusatzmodul angeboten.

Illustration: Martin Schumann
Illustration: Martin Schumann
Illustration: Martin Schumann
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FORSCHUNG UND LEHRE ALS TREIBER VON INNOVATION


Dabei finden normalerweise genau hier – also an den Universitäten und Forschungseinrichtungen – die größten Innovationssprünge statt – auch, weil sie in der Regel Testumgebungen schaffen können, in denen sich neue Technologien erproben lassen. Ein Beispiel hierfür ist die Dublin City University (DCU), an der es aktuell ein großes Forschungsprogramm für intelligente Städte gibt. Konkret setzt man in Irland auf sogenannte Digitale Zwillinge (siehe Infokasten). Im Fall der DCU wurde ein digitaler Zwilling des Campus geschaffen, der als eine Art „digitaler Stadtmikrokosmos“ dabei helfen soll, intelligente und nachhaltige urbane Räume zu entwickeln. Für Kieran Mahon, Smart DCU Projects Facilitator an der Dublin City University ist der DCU-Campus ein ideales Labor, da er die wesentlichen Merkmale einer realen Stadt nachbildet, einschließlich Wohnflächen, Straßen, Einzelhandelsflächen und anderen städtischen öffentlichen Dienstleistungen – wenn auch in kleinerem Maßstab.

In diesem „Mikrokosmos“ werden nun Daten und Informationen gesammelt, mit denen in Zukunft die Mobilität und auch die Sicherheit auf dem Campusgelände verbessert werden sollen. Zugleich werden in Echtzeit Gebäudeleistungen, Belegungen oder auch die Luftqualität überwacht. Ziel ist es, anhand dieser Erkenntnisse dann besser zu verstehen, wie Menschen, Verkehr und auch die Gebäude in einer bebauten Umwelt interagieren, welche Bedürfnisse sie haben und wie Mobilität, Quartiere und auch die Versorgung und Verwaltung gestaltet sein muss, damit Städte gleichzeitig effizienter und lebenswerter werden.
 

TOP-DOWN VERSUS BOTTOM-UP


Das Beispiel der DCU zeigt zwei Dinge deutlich: Zum einen braucht es einen Top-down-Ansatz, der bereits bei der Planung von Quartieren oder Städten beginnt. Denn nur wenn alle Komponenten intelligent ineinandergreifen, kann eine Stadt erst zu einer echten Smart City werden. Das Forschungsprojekt unterstreicht auf der anderen Seite allerdings auch, dass wir noch nicht so weit sind, die derzeitigen Technologien und Lösungen im großen Stil in den Städten auszurollen. Es braucht den sicheren, überschaubaren und damit berechenbar kleinen Mikrokosmos, um Raum für Versuche und damit auch Fehler zu haben – ähnlich wie in vielen Städten gerade Quartiere entstehen, in denen dann neue Mobilitäts-, Verund Entsorgungskonzepte erprobt werden können. Denn auch die Datenbasis, die das Management einer intelligent vernetzten Stadt unbedingt braucht, ist aktuell noch nicht vorhanden und muss erst über derartige Projekte gesammelt werden.

Genau das zeigt auch der Einsatz der KI für ein intelligentes Verkehrsmanagement: Das Potenzial ist da und wird erkannt, es kann trotz des technologischen Fortschritts nur noch nicht in seiner ganzen Fülle gehoben werden. Noch sind kleine Schritte auf dem Weg nötig, sodass man sich durchaus auch mal einen Fehltritt erlauben kann. Denn auch das ist heute schon klar: Unfehlbar ist auch die KI nicht. Vielmehr ist sie am Ende des Tages nur so gut, wie die Menschen und die Daten, von und mit denen sie trainiert wurde. Die Stadt der Zukunft wird zwar immer smarter, der Weg zur Smart City ist jedoch noch weit – was allerdings kein Problem sein sollte. Schließlich wissen wir alle: Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. 
 

DIGITALE VERWALTUNG IN DEUTSCHLAND

Im aktuellen eGovernment-Benchmark-Bericht 2023 der EU liegt Deutschland im Ländervergleich wie im Vorjahr auf Platz 21. Trotz einiger Anstrengungen, Initiativen und Projekte ist die Verwaltung im Land noch nicht wirklich digital. Auf einer solchen Basis lassen sich dann auch nur schwer KI-basierte Lösungen umsetzen. Die EU attestiert Deutschland zwar eine vergleichsweise hohe Nutzerzentrierung (91 versus 90 im EU-Schnitt), bei den Themen Transparenz (40 versus 62 im EU-Schnitt) und technologische Basis (60 versus 71 im EU-Schnitt) liegt Deutschland aber nach wie vor zurück. Nur bei länderübergreifenden Services (60 versus 57 im EU-Schnitt) hat Deutschland leicht die Nase vorn. Deutlichen Nachholbedarf attestiert die EU Deutschland beim Thema Daten oder auch der eID.
 

DIGITALE ZWILLINGE

Den Begriff Digitaler Zwilling darf man durchaus wörtlich nehmen. Denn vereinfacht ausgedrückt handelt es sich um eine dynamische Kopie eines physischen Assets, Prozesses, Systems oder sogar Menschen. Letztere werden beispielsweise in der Medizin angelegt, um anhand von Daten neue Medikamente zu erforschen. Im Fall einer intelligenten und vernetzten Stadt lassen sich mit einem Digitalen Zwilling zahlreiche Szenarien durchspielen, die verschiedenen Bereiche aus Stadtplanung, Verkehr, Versorgung und Verwaltung vernetzen und somit in einem kontrollierten Rahmen erprobt werden können. Denn das Schöne an Digitalen Zwillingen: Sie müssen in der realen Welt nicht zwingend existieren, auch Zukunftsprognosen sind mit ihnen möglich.

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