Welcher Autofahrer, welche Autofahrerin kennt es nicht: Gerade in Großstädten schafft man es selten über zwei grüne Ampeln am Stück. Auf schwierigen Abbiegespuren mit Gegenverkehr kommen manchmal nur zwei Fahrzeuge während einer Ampelphase weiter oder ein Lkw – wenn es gut läuft. Das liegt daran, dass die Ampeln in Städten zwar nach einem System geschaltet sind, aber nicht das Verkehrsaufkommen berücksichtigen. Wohl auch deshalb ist die Vision, dieses Problem mit Hilfe der Digitalisierung zu lösen, nicht neu. Die Hansestadt Lübeck hat beispielsweise bereits 2008 das Programm „Staufrei 2015“ ins Leben gerufen, bei dem über einen zentralen Computer eine intelligente Ampelschaltung gesteuert werden sollte.
„Sollte“ hieß dann aber noch lange nicht „wurde“. Die Hanseaten waren offenbar das, was man gemeinhin als „vor ihrer Zeit“ bezeichnet. Denn erst heute, also knapp 16 Jahre später, wird das Projekt tatsächlich umgesetzt, auf drei Teststrecken und mit 3,2 Millionen Euro Förderung vom Bund. Unter dem Namen „Lübeck VIAA: Verkehrsmanagementsystem – Intelligent – Analytisch – Agil“ will Lübeck als eine der ersten Städte mit einem Verkehrsrechnersystem in Echtzeit bundesweit einen neuen Weg beschreiten. Dabei soll das System den Verkehr nicht nur überwachen und steuern, sondern auch vorausschauend berechnen. Heißt: Das System berücksichtigt nicht nur die aktuelle Verkehrssituation, sondern bezieht zum Beispiel die Fahrplanlage jedes einzelnen Busses und/oder die Schaltungen der vorausliegenden Ampeln in die Berechnungen mit ein. Dadurch wird es möglich, nicht nur den Verkehrsfluss allgemein zu verbessern, sondern insbesondere auch den ÖPNV zu beschleunigen. Ähnliche Ansätze gibt es in anderen Städten für Feuerwehr und Krankenwagen, die intelligent gesteuert im Stadtverkehr reibungslos und damit schneller am Einsatzort ankommen sollen.
OHNE KI GEHT ES NICHT
Schon beim Durchdenken dieser Ideen wird klar: Hier muss Künstliche Intelligenz ins Spiel kommen. Anders lassen sich derart große Datenmengen kaum in Echtzeit verarbeiten. Und spätestens, um Vorhersagen auf Basis dieser „Big Data“ treffen zu können, braucht es dann selbstlernende Algorithmen. Daran arbeitet das Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB seit 2022. In den beiden Projekten „KI4LSA“ und „KI4PED“ entwickeln Wissenschaftler eine KI, die eine vorausschauende Ampelschaltung ermöglicht. Im Projekt „KI4LSA“ erfasst hochauflösende Kamera- und Radarsensorik das Verkehrsgeschehen und regelt den Verkehr in Echtzeit. In Kombination mit Künstlicher Intelligenz und Algorithmen des Deep Reinforcement Learning sollen das beste Ampel-Schaltverhalten und die beste Phasenfolge ermittelt werden. Und im Projekt „KI4PED“ wird, wie das Kürzel schon vermuten lässt, ein neuer Ansatz zur Steuerung von Fußgängerampeln für die „Pedestrians“ erforscht. Beide Projekte haben eine Laufzeit von 30 Monaten. Dennoch ist seit Juli dieses Jahres mit KISLEK bereits eine Weiterführung gestartet, in deren Rahmen erprobt wird, wie mehrere miteinander verbundene Verkehrsknoten über die KI gesteuert werden können.
FORTSCHRITT BRAUCHT ZEIT
Schaut man sich allerdings den rasanten Durchmarsch der KI in den vergangenen Monaten an, ist es fast verwunderlich, dass die Umsetzung einer vermeintlich einfachen Aufgabe wie die der Ampelschaltung dermaßen lange zu dauern scheint. Allerdings liegen die Gründe dafür auf der Hand: Verkehr ist superkomplex. Schließlich gibt es in einer Großstadt nicht nur eine, sondern, beispielsweise in Berlin, über 2.000 Ampeln. Und die sind nur eine Komponente von vielen, die es in puncto Verkehr und damit von der KI zu managen gilt. Und dann geht es am Ende des Tages auch immer um Menschenleben. Beides macht Projekte wie beispielsweise das in Lübeck teuer. Fünf Millionen Euro sind für die drei Teststrecken mit nur wenigen Ampeln veranschlagt, wovon der Großteil in ein noch aufzubauendes Sensornetz und Datenmanagement fließen wird.
Beides sind wichtige Punkte, wenn es um die Herausforderungen geht, die es auf dem Weg in einer wirklich KI-getriebene Stadt der Zukunft noch zu lösen gilt. Denn aktuell fehlt meist vor allem eine solide technologische Basis. Nehmen wir die Verwaltung als Beispiel. 2021 hat der Verein „Co:Lab Denklabor & Kooperationsplattform für Gesellschaft & Digitalisierung“ eine Studie zum Potenzial von KI in Kommunen veröffentlicht. Die Quintessenz in einem Satz: „In Bezug auf die Digitalisierung im Allgemeinen und die Nutzung von KI im Speziellen ist noch viel zu tun.“ Schon im Vorwort der Studie versucht sich Prof. Dr. Katharina Zweig vom Algorithm Accountabily Lab der TU Kaiserslautern an einem realistischen Erwartungsmanagement: „Wir sollten uns heute um andere Fragen kümmern, nämlich um die Frage, welche realistischen Chancen die aktuelle KI für Kommunen bietet.“ Hier habe sich in den letzten Jahren zwar viel getan, wobei Zweig vor allem auf Routinearbeiten verweist, die inzwischen „ziemlich zuverlässig von Maschinen übernommen werden können.“ Ihr nüchternes Fazit zur „sogenannten KI“: „Sie mag noch nicht intelligent sein, aber sie ist ein wichtiges Werkzeug, um Texte, Sprache und Bilder besser zu verarbeiten.“
KOMMUNALE PILOTEN GESTARTET
Wirklich flächendeckend angekommen in den Kommunen ist die KI demnach bislang nicht – auch, weil gerade dort die Digitalisierung hinterher hängt, wie spätestens die Corona-Pandemie noch einmal nachdrücklich aufgezeigt hat. Das soll sich nun jedoch mit diversen Pilotprojekten ändern, die in zahlreichen Städten derzeit ins Leben gerufen werden. So wurde beispielsweise in Gelsenkirchen jetzt im Juli das Anwendungszentrum „Künstliche Intelligenz für kommunale Lösungen“ gegründet. Es soll helfen, das Potenzial von Künstlicher Intelligenz für kommunale Verwaltungen identifizieren und einschätzen zu können, sowie bundesweit auch anderen Kommunen zugutekommen. Auch hier sind alleine für die erste Projektphase bis 2025 fünf Millionen Euro veranschlagt, die zu 90 Prozent im Rahmen der Modellprojekte Smart Cities vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen gefördert werden.
Bis der Chatbot uns durch den Bürgerservice lotst, der Reisepass automatisch erneuert wird, es sei denn, wir widersprechen – Opting-out liegt derzeit im Trend – oder gar Papierformulare endgültig der Vergangenheit angehören, dürfte es also leider noch dauern. Dass es grundsätzlich möglich ist, zeigt jedoch EU-Digitalvorbild Estland. Dort gibt es nicht nur den elektronischen Personalausweis verpflichtend seit 2001, sogar 99,9 Prozent aller staatlichen Dienstleistungen können online in Anspruch genommen werden. Ein Haus kaufen, das Haustier anmelden, einen Heiratsantrag ausfüllen oder wählen gehen – alles passiert in Estland im Netz.
WO ANFANGEN?
Estland wird in vielen Bereichen als Vorbild in Sachen Digitalisierung herangezogen. Das liegt vor allem daran, dass die dortige Regierung nach dem Zerfall der Sowjetunion einen Großteil der Infrastruktur komplett neu aufbauen musste – darunter beispielsweise die öffentliche Verwaltung. Und auf einem mehr oder weniger weißen Blatt Papier Prozesse und Strukturen mit Hilfe des aktuellen Stands der Technik neu aufzubauen, ist natürlich wesentlich leichter, als jahrzehntelang gewachsene Strukturen mit all ihren teils skurrilen Auswüchsen während des laufenden Betriebs zu transfomieren.
Da liegt die Frage nahe, ob es hierzulande wirklich sinnvoll ist, in kleinen Projekten in den jeweiligen Sektoren neue Technologien wie Künstliche Intelligenz losgelöst vom Gesamtkonstrukt einer Stadt zu erproben, oder aber die Technologie gleich im Großen mitzudenken, etwa bei der Stadtplanung. Top-down versus Bottom-up quasi. Darüber haben auch Stadtplaner und Architekten im April auf ihrer diesjährigen Leitmesse Polis Convention diskutiert – vor allem im Rahmen des Themenforums „KI in der Stadtplanung“. Zur Art und Weise, wie Künstliche Intelligenz die Stadtplanung verändern könnte, zog Tobias Walliser, Professor für Digitales Entwerfen an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, den Vergleich zwischen den Brettspielen Schach und Go: „Während bislang – wie bei Schach-Figuren – Funktionsweisen von Parametern relativ fest vorgegeben waren, müssen Planer beim Einsatz von KI vielfältige Korrelationen erkennen – so wie Go-Steine ihre Wertigkeit aus der Position im Feld und in Beziehung zu den Nachbarfiguren erhalten.“
Um dieser Komplexität Herr zu werden, müsste die Gesellschaft erst einmal entscheiden, auf welche Frage die Künstliche Intelligenz überhaupt eine Antwort sein soll – oder vielmehr kann, ist sich Walliser sicher. Und auch in der Lehre, zeigte sich in dem Vortrag, spielt KI bisher noch eine eher untergeordnete Rolle und wird bestenfalls als Zusatzmodul angeboten.