Herr Professor Esser, Touristen und Zuzügler sind immer wieder beeindruckt von der deutschen Brotkultur mit ihren knapp 3.200 Brotsorten. Sie wurde sogar von der Unesco zum immateriellen Kulturerbe erklärt. Sie haben einmal Bäcker gelernt. Wie passt das zusammen: die Brotvielfalt und die Klagen der Branche über zu wenig Nachwuchs und sinkende Qualität?
Ich habe einige Jahre in Berlin nahe dem Gendarmenmarkt gewohnt. Dort habe ich die gute handwerkliche Bäckerei um die Ecke vermisst. Aber zum Glück gibt es immer noch junge Leute, die die Qualität des Handwerks entdecken. Sie bedienen mit guten Produkten einen Markt, der noch sehr gut funktioniert und wo man gutes Geld verdienen kann. Was den Nachwuchs betrifft, so schrecken oft die Arbeitszeiten ab. Aber auch hier hat sich die Technik weiterentwickelt. Mörderische Arbeitszeiten müssen nicht mehr zu einem guten Bäckerberuf gehören. Heute kann man das Handwerk attraktiver gestalten.
Wenn Branchen wie das Backhandwerk keinen Nachwuchs mehr finden, liegt das vielleicht daran, dass junge Leute heute eine andere Einstellung zum Berufsleben haben – und mehr Wert auf Flexibilität oder eine Vier-Tage-Woche legen?
Ich würde mich hüten zu sagen, dass die Jugendlichen weniger arbeitswillig sind. Aber es gibt unterschiedliche Herangehensweisen an die Ausbildung. Wir wissen aus der Psychologie und aus Studien, dass Jugendliche heute die Entscheidung für einen bestimmten Beruf und eine bestimmte Laufbahn so weit wie möglich hinausschieben. Dabei ist eine Berufsausbildung keine Sackgasse, man kann sich nach der Ausbildung weiterentwickeln und für andere Berufe qualifizieren. Man kann sich für die höhere Berufsbildung entscheiden und den Karriereweg bis zum Meister oder Betriebswirt gehen, die dem Bachelor- und Masterabschluss gleichwertig sind.
Damit sind wir schon mittendrin im Dilemma: Ist denn das duale Ausbildungssystem, das Deutschland über Jahrzehnte geprägt hat, auch heute noch ein Markenzeichen für die Qualität?
Ja, zunächst einmal ist die duale Berufsausbildung nach wie vor ein wichtiger Standortfaktor für Deutschland. Mit rund 1,2 Millionen Auszubildenden und rund 427.000 Abschluss- bzw. Gesellenprüfungen pro Jahr trägt sie wesentlich zu unserer Wirtschaftskraft bei. Dieses Ausbildungssystem und die hohe Qualifikation der Fachkräfte sorgen dafür, dass unsere Wirtschaft, made in Germany, einfach funktioniert. Wir sagen immer: Deutschland hat wenig Ressourcen im Boden, aber viele Ressourcen in den Köpfen. Deshalb ist eine sehr gute Qualifikation so wichtig. Wie hoch die Qualität des Systems ist, zeigt auch die höhere Berufsbildung, in der in Deutschland jedes Jahr rund 100.000 Menschen zum Beispiel zum Meister, Servicetechniker oder Betriebswirt geprüft werden. Das Besondere ist, dass rund 300.000 Ausbilder und Berufsschullehrer auf Grundlage der Anforderungen aus der Wirtschaft als ehrenamtliche Prüfer tätig sind. Viele Länder beneiden uns um dieses System.
Aber warum entsteht heute der Eindruck, dass das Ausbildungssystem nicht mehr den Anforderungen der Wirtschaft entspricht?
Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen haben wir ein demografisches Problem. Es kommen immer weniger Jugendliche von den Schulen in das Ausbildungssystem. Zum anderen wird der Hochschulbildung mehr Bedeutung beigemessen, was dazu führt, dass sich junge Menschen weniger für die duale Ausbildung interessieren. Die Wurzeln dieses Trends verorte ich bereits in den 1960er-Jahren, als der Slogan „Aufstieg durch Bildung“ junge Menschen aus benachteiligten Verhältnissen durch Abitur und Studium herausführen sollte.
Zusammen mit der demografischen Entwicklung führt dies letztlich zu einem Fachkräftemangel in der Industrie und vor allem im Handwerk, während akademische Bereiche wie Banken und IT weniger betroffen sind.
Wie könnten denn klassische Industrie- und Handwerksberufe attraktiver werden?
Entscheidend sind eine bessere Kommunikation und Transparenz über moderne Entwicklungen in den Berufen. Oft herrschen überholte Klischees über die Berufe vor. Auch ist die Berufsorientierung schwierig, wenn Sie unter mehr als 320 Ausbildungsberufen entscheiden können. Jugendliche müssen daher besser informiert und motiviert werden, sich intensiver mit den Berufen auseinanderzusetzen. Viele kennen die aktuellen Rahmenbedingungen nicht, etwa den Einfluss von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz. Dabei haben sich gerade im Handwerk die Berufsbilder stark verändert, zum Beispiel hin zu technologie- und klimarelevanten Tätigkeiten.