»Der Handel muss seine Kunden wieder begeistern«

Wie begegnet der Handel den Multikrisen und der Konsumschwäche? Zukunftsforscherin Theresa Schleicher über die neue Billigkultur, Avatare, KI und den Wellbeing-Trend, sich nachhaltig neu aufzustellen und innovative Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Illustration: Marcela Bustamante
Illustration: Marcela Bustamante
Interview: Julia Thiem Redaktion

Sie haben gerade zum zweiten Mal Ihre Zukunftsstudie Handel veröffentlicht. Was sind die wesentlichen Erkenntnisse?

Handelstrends und Entwicklungen für das kommende Jahr müssen aktuell im Kontext der Omnikrise betrachtet werden. Klimakrise trifft auf Wirtschaftskrise trifft auf politische Krise trifft auf globale Konflikte. Das führt gerade bei sehr vielen Menschen zu einer kognitiven Erschöpfung. Sie sind müde und haben Angst, in die Zukunft zu schauen. Das wirkt sich natürlich auf ihr Konsumverhalten aus. 
 

Heißt, die Menschen sind zurückhaltender beim Konsum?

Ich würde es als bewusster beschreiben – also nachhaltiger, weniger und auch sparsamer.
 

Sparsamer würde das Phänomen der Billigkultur erklären. Denn Marken wie Shein oder Temu erfreuen sich aktuell großer Beliebtheit …

Richtig, wobei diese Kultur weit über die von Ihnen genannten Beispiele hinausgeht. Insgesamt werden derzeit 22 Prozent aller Waren des alltäglichen Gebrauchs in Deutschland rabattiert angeboten. Und das führt zu einem ganz anderen Verhältnis von Preis/Leistung. In den nächsten zwei Jahren wird sich alles um diesen Aspekt drehen: Was ist der richtige Preis und was ist ein Produkt überhaupt noch wert?
 

Gleichzeitig sagen Sie – und das belegt Ihre Studie –, dass Nachhaltigkeit ebenfalls eine immer größere Rolle spielt. Wie passt das zum „Billigtrend“?

Das ist eine der großen Herausforderungen für den deutschen Handel, bei der Innovationskraft und Kreativität gefragt sind. Es muss Unternehmen wieder gelingen, Menschen von guten Produkten zu begeistern – und zwar unabhängig von der Branche. Preis/Leistung wird zunehmend und vor allem in Zukunft zur Vertrauenssache – Vertrauen, das es zurückzuholen gilt. Und zwar mit anderen Formen von Rabatten und Leistungen, die uns zukünftig Wert schaffen.
 

Interessant ist der Fokus der Konsumenten auf den Preis in Krisenzeiten dennoch. Denn gerade wenn die Welt draußen unterzugehen scheint, hat man doch das Bedürfnis, sich etwas Gutes zu tun …

Tatsächlich erleben wir deshalb auch das Wiederaufflammen eines Megatrends, der schon einmal da war, jetzt aber mehr Raum bekommt. Nämlich Produkte, die auf die Gesundheit und das eigene Wohlbefinden einzahlen. Der Trend hin zu Wellbeing-Markets entspricht dem Wunsch der Verbraucher nach einem bewussten und gesunden Lebensstil. Unternehmen, die hier positive Einkaufserlebnisse und Wohlfühlprodukte anbieten, werden sich in einem wachsenden Markt positionieren können. Dieses Wohlfühlen wirkt sich im Übrigen auch auf die Gestaltung der Läden aus. Alles wird wieder wertiger, Materialien und Design bleiben naturbelassen.


Wie kann der stationäre Handel hier punkten?

Wenn er die Trends erkennt und innovativ ist. Es gibt in Berlin einen Käsekuchenladen, der über 15 verschiedene Sorten anbietet, die nur mit natürlichen Zutaten und ohne Zucker gebacken werden. Die Schlange geht bis auf die Straße. Ähnliche Trends sehen wir bei Wein, der mittlerweile immer öfter pur, also ohne Zuckerzusatz, und dadurch kalorienreduziert produziert wird.
 

Das heißt, Konsum wird entweder durch Rabatte angekurbelt oder außergewöhnliche Erlebnisse, die begeistern …

Das ist eine gute Zusammenfassung, ja. Denn was die Menschen nicht wollen, ist verzichten. Das funktioniert entweder, wenn Produkte billig sind oder besonders herausstechen. Der Handel muss daher schauen, wo und wie er sich positioniert, und dafür schlicht ausgetretene Pfade verlassen. Dazu gehören definitiv auch neue Technologien, denn gerade im E-Commerce wird dank Künstlicher Intelligenz das Schoppingerlebnis immer persönlicher und intuitiver – Aspekte, mit denen bisher vor allem der stationäre Handel überzeugen konnte, weshalb jetzt auch hier neue Servicestandards gesetzt werden. 

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Sie waren für Ihre Studie lange in China. Gerade der dortige E-Commerce setzt stark auf Technologie. Was kann Deutschland davon lernen?

Vor allem die Scan-Funktion, die beispielsweise Temu anbietet, schafft für Kunden einen deutlichen Mehrwert. Egal, was ich auf der Straße oder im stationären Handel sehe. Ich scanne es über die Kamera meines Smartphones, und die Plattform spuckt dieselben oder vergleichbare Produkte zu einem oftmals besseren Preis aus. Europa darf außerdem nicht verkennen, dass die Chinesen in der Regel sehr langfristig planen. Temu arbeitet aktuell beispielsweise daran, mehr lokal ausgewiesene Produkte zu listen, sodass Kunden dann in Zukunft auch dort Produkte mit deutscher Qualität filtern können.
 

Welche Rolle spielt die KI für den Handel mittlerweile?

Eine wichtige, sodass wir ihr unter dem Titel Huma-AI-Shopping einen eigenen Trend in der Studie gewidmet haben. Hier tut sich im E-Commerce gerade einiges, denn dank generativer KI und sprachlich hochentwickelter Avatare wird auch der Online-Handel immer „menschlicher“. Anstatt auf einer Plattform nach einem Cocktailkleid zu suchen, sagen Sie in Zukunft dem Chatbot, er soll Vorschläge für ein Outfit für die Datenight mit Ihrem Partner machen, und werden vermutlich positiv überrascht. Gerade für die nachwachsende Generation der AI-Natives ein ganz wichtiger Aspekt. Mit anderen Worten: Während der stationäre Handel immer mehr von Technologie getrieben wird, gewinnt der E-Commerce durch die Technologie den gewissen „Human Touch“ und ein höheres Servicelevel. 
 

Was ich bis hierhin mitnehme: Der Wandel im Handel wird zu einem regelrechten Spannungsfeld und in Teilen fast widersprüchlich. Denn mehr KI ist nicht unbedingt nachhaltig …

Auch da haben Sie recht – übrigens eines der Themen meiner Studie im letzten Jahr: Green AI. Tatsächlich werden Digitalisierung und KI auch in den Nachhaltigkeitsberichten der Unternehmen oftmals ausgeklammert, weil es eben ein Innovationsfeld ist. 
 

Wird bei einem solchen Drahtseilakt zwischen den Spannungsfeldern dann auch das Thema Kommunikation wichtiger?

Definitiv ein wichtiger Aspekt, gerade weil Unternehmen bei rückläufigen Umsätzen gerne am Marketing sparen. Dabei ist gute Kommunikation entscheidend. Denn was nützen Ihnen die positivsten und innovativsten neuen Entwicklungen, wenn sie nicht nach außen getragen werden? Das meine ich damit, dass der Handel seine Kunden wieder begeistern muss – von der Marke und den Produkten.
 

ZUR PERSON

THERESA SCHLEICHER gilt als führende Handels-Zukunftsforscherin in der DACH-Region. Die Expertin entwickelt die prägenden Trends für den Einzelhandel der nächsten Jahre und veröffentlicht sie in Zusammenarbeit mit führenden Instituten.

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