Gigantischer Strukturwandel

Im kommenden Jahr soll es mit Deutschlands Industrie wieder aufwärts gehen. Die mittelfristigen Perspektiven dafür sind gut.
Illustration: Itziar Barrios
Illustration: Itziar Barrios
Axel Novak Redaktion

2022 wird das Jahr der Aufholjagd – die Hoffnungen jedenfalls sind groß: „Wenn im kommenden Frühjahr die wirtschaftlichen Belastungen durch die Pandemie größtenteils ausgestanden sind und die Lieferengpässe nachgelassen haben, wird die Erholung wieder an Kraft gewinnen und das Wirtschaftsgeschehen rasch wieder zur Normalität zurückkehren“, schreiben die Ökonomen vom Institut für Wirtschaft in ihrem aktuellen Konjunkturbericht.

Ob allerdings Erholung gleichbedeutend mit Normalität ist, bleibt dahingestellt. Denn Deutschlands Unternehmen stehen vor einem gigantischen Strukturwandel, um die ehrgeizigen Klimaneu-tralitätsziele zu erfüllen: Das Land muss bis 2030, also innerhalb von neun Jahren, seine klimaschädlichen CO2-Emissionen fast halbieren. Wenn nun politisch der Umbau zu Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit in der Industrieerzeugung notwendig ist, dann müssen die Voraussetzungen für die Unternehmen stimmen, damit sie auf diesem Weg weitergehen können.

Neben der Rückkehr zum klassischen Wachstum stehen deshalb große Themen im kommenden Jahr auf der Agenda: Energieversorgung, demografischer Wandel und die Digitalisierung.

 

Zugang zu grüner Energie

 

Da ist zum einen die Energieversorgung. Die Parole ist simpel: Ohne Energie keine Industrie. Schon heute ist der hohe Strompreis in Deutschland besonders für energieintensive Industrien eine Belastung. Im EU-Vergleich liegt Deutschland mit 18,18 Cent pro kWh vorne.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat in der Studie Klimapfade 2.0 untersucht, wie die Industrie den Umbau zur CO2-Neutralität bewerkstelligen könnte. Der Verband hält weiter steigende Preise für die mit der Energieerzeugung verbundenen CO2-Emissionen für nicht ausreichend. Daher sieht der BDI einen Investitionsbedarf in Höhe von 860 Milliarden Euro allein bis 2030, um zum Beispiel die Infrastruktur für Strom-, Wasserstoff-, Fernwärme- und CO2-Netze auszubauen. Damit könnten Unternehmen zumindest Zugang zu klimafreundlichen Energien, wie zum Beispiel Grünstrom oder Wasserstoff erhalten. Auch eine erhebliche Beschleunigung von Genehmigungsverfahren sei notwendig, um jahrelange Verzögerungen zu vermeiden.

Ein zweites Thema, das die Unternehmen im kommenden Jahr massiv beschäftigen wird, ist der demografische Wandel. Jede zweite Person in Deutschland ist heute älter als 45 und jede fünfte Person älter als 66 Jahre: Künftig sinkt die Zahl jüngerer und gleichzeitig steigt die Zahl älterer Menschen – das hat Auswirkungen: Das Produktions- und Wachstums-potenzial sinkt, wie die Forscher am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) in ihrer Mittelfristprognose feststellen. Auch sinkt die Zahl der Erwerbspersonen, die dem Arbeitsmarkt potenziell zur Verfügung stehen. Unbesetzte Ausbildungsstellen zeigen, dass das Problem künftig schärfer wird. Zum Start des Ausbildungsjahres 2020 konnten fast 60.000 Ausbildungsstellen nicht besetzt werden. 2021/22 haben die ausbildungsberechtigten Betriebe weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen als vor der Corona-Krise, häufig aus Mangel an Bewerbungen, so das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Vor allem Berufe mit technischem oder naturwissenschaftlichem Hintergrund, in den Bereichen Gesundheit und Pflege sowie im Handwerk sind unterbesetzt. „Insgesamt werden derzeit etwa 1,2 Millionen Arbeitskräfte, davon zwei Drittel Fachkräfte, gesucht“, sagte Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) in der Welt am Sonntag. In der Süddeutschen Zeitung legte er nach: „Wir brauchen 400.000 Zuwanderer pro Jahr. Also deutlich mehr als in den vergangenen Jahren“, so Scheele. „Von der Pflege über Klimatechniker bis zu Logistikern und Akademikerinnen: Es werden überall Fachkräfte fehlen.“

 

Mitten im digitalen Umbau

 

Daran ändert auch das große Thema Digitalisierung nichts. Der digitale Umbau geht zwar häufig mit Automatisierung einher: Maschinen übernehmen Funktionen, die bislang von Menschen ausgeübt werden. Doch der Wandel erfordert auch mehr (menschliche) Steuerung, Konzeption und vor allem mehr digitale Affinität der Beschäftigten: Er ist tiefgreifend und umfassend.

Die Aufgabe ist so gewaltig, dass einige Fachleute schon den ganzen Standort daran scheitern sehen. Die Attraktivität Deutschlands als Wirtschaftsstandort sei in Gefahr, heißt es in einer aktuellen Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG. Befragte Finanzchefs deutscher Tochtergesellschaften internationaler Konzerne sagen, dass Deutschland im EU-Vergleich weiter an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat. Vor allem die unzureichende digitale Infrastruktur hemme das Land. Jeder vierte Manager zählt sie zu den fünf schlechtesten in der ganzen EU.

Und tatsächlich sind auch die Unternehmen selber unzufrieden mit ihrem digitalen Umbau: In einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) stuften sie ihren Digitalisierungsgrad nur als befriedigend ein. Unzureichendes Internet, hohe Komplexität im digitalen Wandel, hohe Kosten und fehlende Zeit erschwerten aktuell die Digitalisierung.

Dabei hat sich gerade in den vergangenen Monaten die Corona-Pandemie als echter Beschleuniger erwiesen: Unabhängig von mehr Videokonferenzen im Office hat der Digitalisierungsschub vor allem dafür gesorgt, dass sich die Unternehmen mehr mit digitalen Technologien beschäftigen, hat der Bitkom-Verband jüngst festgestellt. Big Data und das Internet of Things für die vernetzte Produktion sind häufige Themen, genauso wie der neue Mobilfunkstandard 5G oder Virtual und Augmented Reality Tools. Innovative Verfahren wie der 3D-Druck werden zunehmend eingesetzt. Schon heute sorgen Digitalisierung und Automatisierung für eine effizientere und ressourcenschonendere Produktion.

Ganz so schlecht schätzen auch die von der KPMG befragten Manager die Lage nicht ein: Deutschland liegt für viele weiterhin weit vorne in der EU. Vor allem der hohe Lebensstandard und die öffentliche Sicherheit sorgen für einen attraktiven Wirtschaftsstandort.

Und schließlich die politische Stabilität. Sogar ein Regierungswechsel gelingt relativ unaufgeregt. Das können für die Unternehmen in Deutschland eigentlich gute Voraussetzungen sein, um die Aufgaben im kommenden Jahr 2022 erfolgreich zu meistern.

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