Das Recycling-Zeitalter beginnt

Um CO2 zu reduzieren, muss die Wirtschaft in Kreisläufen denken. Das ist gar nicht so einfach, birgt aber enorme Chancen.
Illustration: Itziar Barrios
Illustration: Itziar Barrios
Axel Novak Redaktion

Stahl auf Stahl – mit diesem Motto beklebt, ist die Lok 185 077-5 der Deutschen Bahn derzeit irgendwo in Deutschland unterwegs. Was sich ein bisschen nach dem Song Faust auf Faust von Montan-Sänger Klaus Lage anhört, ist das neue Aushängeschild der DB: Die gebrandete Lok steht für ein neues Transportkonzept für das Stahlunternehmen Voestalpine. Damit hat es die Güterbahn geschafft, die Produktion des begehrten Materials nachhaltiger zu gestalten. Und dafür ist die doch eher schwerfällige und defizitäre Tochter der DB, die DB Cargo sogar auf dem Logistik-Branchenkongress 2021 in Berlin mit einem Preis ausgezeichnet worden.

Ein nachhaltiges und klimafreundliches Transportkonzept für die Stahlindustrie zu ermöglichen – das wäre eine beachtliche Leistung. Denn Kreislaufwirtschaft, das ist das Thema, um Ressourcenschonung und Klimafreundlichkeit in industriellem Maßstab unter einen Hut zu bringen.

Der Hintergrund: Deutschland hat einen enormen Rohstoffkonsum. Jeden Tag konsumiert jeder Bewohner in Deutschland fast 35 Kilogramm an Rohstoffen, von Erdöl über Stahl bis zu Holz oder Mehl, so das Umweltbundesamt. Wenn die bald acht Milliarden Menschen auf der Erde in so einem Wohlstand leben wollen, dann reicht eine Erde allein nicht mehr aus. Die Ressourcen wären schnell am Ende. Hunger und Konflikte die Konsequenz.

Die Industrie wird ihre Produktion daraufhin umstellen müssen, weniger Ressourcen zu verbrauchen. Ein Ansatz dafür ist die Kreislaufwirtschaft. Zirkuläres Wirtschaften zielt auf die längst mögliche Nutzung von Produkten und Rohstoffen. Im Idealfall gibt es keinen Abfall mehr, weil Produkte neu verwendet, aufgearbeitet oder repariert werden. Sie werden zu Ressourcen, die immer wieder und länger zum Einsatz kommen. Ist das nicht möglich – wie beispielsweise beim Papier –, werden sie wieder in ihre Rohstoffe zerlegt und so wiederverwertet.

Eine solche Form des Wirtschaftens in Kreisläufen ist klimafreundlicher, weil die Treibhausgasemissionen sinken. Es ist weniger energie- und arbeitsintensiv, Güter aus wiederverwendeten Materialien herzustellen als aus Rohstoffen.

Noch weiter reichen umfassende zirkuläre Wertschöpfungsnetzwerke. In ihnen entfaltet sich die Wirksamkeit der Kreislaufwirtschaft noch effizienter, weil Unternehmen in solchen Netzwerken Ressourcen gemeinsam nutzen, Materialkreisläufe schließen und die Wertschöpfung transparent steuern.

Ohne Kreislaufwirtschaft fehlen weltweit im Jahr 2030 mehr als sieben Milliarden Tonnen natürlicher Rohstoffe, prognostizieren die Unternehmensberater von Accenture. Gleichzeitig könnte eine Kreislaufwirtschaft 4,5 Billionen US-Dollar zusätzliche Wirtschaftsleistung bis zum Jahr 2030 global generieren.

 



VIELE PRODUKTIONSABLÄUFE SIND LINEAR
Noch aber sehen Industrieunternehmen eine Menge Hindernisse. „Viele Produktionsabläufe sind nach wie vor linear organisiert, doch der Trend hin zu Wertschöpfungsnetzwerken ist eindeutig. Das ist in einer zunehmend globalisierten Wirtschaft auch gar nicht anders möglich, denn die verschiedenen Zulieferer und Komponenten in den einzelnen Branchen sind schon jetzt sehr eng miteinander verknüpft. Diesen Trend können und sollten die Unternehmen weiter ausbauen und strategisch nutzen, um widerstandsfähiger zu werden. Erste Ansätze gibt es“, sagt Dr. Carsten Polenz, SAP Vice President. Nun geht es darum, solche Ansätze weiterzuentwickeln und auf andere Bereiche auszuweiten. Gemeinsam genutzte Produktionsorte beispielsweise könnten helfen, Ressourcen zu sparen und Kräfte zu bündeln. Aber: „Ein solcher Ansatz erfordert ein ganz neues Denken und ein neues Verständnis von Wettbewerb. Das muss sich in vielen Unternehmen erst einmal entwickeln“, hält Polenz in einem Impulspapier der Bundesregierung fest.

In einer Umfrage des Zertifizierers DNV und des World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) geben mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen an, dass sie bereit sind, in den nächsten Jahren zumindest ein Kreislaufmodell einzuführen – vor allem um Ressourcen zu gewinnen und die Produktlebensdauer zu verlängern. Jedes zehnte Unternehmen sagt, dass die Kreislaufwirtschaft für die Geschäftsstrategie zentral ist. Aber nur jedes zwanzigste hat dafür einen ausgereiften Ansatz. Aktuell werden im Schnitt gerade einmal zwölf Prozent der Rohstoffe recycelt, die in der Industrie verarbeitet werden.

 

STAHL ALS ENABLER
Interessanterweise ist gerade die Metallindustrie auf einem gutem Weg. Zwar erfordert die Herstellung von Metallen einen hohen Energieeinsatz. Doch lässt sich dieser zumindest mittelfristig auf erneuerbare Quellen umstellen. Gut eine viertel Tonne Metall benötigt jeder Bundesbürger im Laufe des Jahres, haben die Forscher des Fraunhofer-Instituts für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen IMWS berechnet. Mehr als die Hälfte sind mit dem Kauf und Betrieb von Fahrzeugen sowie dem Wohnen verbunden. Die künftige Verwendung von Metallen kann zirkulär gut organisiert werden – Recycling ist schon heute in der Branche weit verbreitet. Stahl beispielsweise bringt gute Eigenschaften mit – er ist magnetisch und daher gut sortierbar.

Die Wirtschaftsvereinigung Stahl schätzt daher den Werkstoff sogar als „Enabler“ ein, denn als Bestandteil von Anlagen, Maschinen und Werkzeugen trägt er dazu bei, Umweltschutzverfahren in anderen Sektoren zu realisieren. Stahl macht viele andere Werkstoffkreisläufe überhaupt erst möglich.

Dennoch sieht der Branchenverband noch viele Hindernisse für eine wirkliche Kreislaufwirtschaft. Politische Unterstützung beispielswiese: So sollte der gesamte Lebenszyklus von Produkten und den darin verwendeten Werkstoffen ökobilanziell berücksichtigt werden. Auch sollte die öffentliche Hand so einkaufen, dass die Nachhaltigkeit von Produkten und Materialien bevorzugt wird. Bessere rechtliche Vorgaben für die Unternehmen und Orientierungshilfen für die Konsumenten bei ihrer Kaufentscheidungen schließlich könnten zirkuläres Wirtschaften unterstützen, sagt die Stahllobby.

 

DIGITALISIERUNG WIRD ZUR VORAUSSETZUNG
Ein anderes Beispiel zeigt, warum die Umstellung so schwierig ist: In kaum einer Branche ist der Energie- und Rohstoffkonsum so hoch wie in der Bauindustrie. Bis zu 40 Prozent der CO2-Emissionen und nahezu ein Drittel aller Abfälle in der europäischen Union entstehen durch das Baugewerbe.

Die Baubranche nun mit dem Gedanken der Nachhaltigkeit zu verknüpfen, das ist eine Idee, die so alt ist wie das Häuser bauen, aber in den vergangenen Jahrzehnten in Vergessenheit geriet. Nun fordern Fachleute eine veritable Bauwende: Vom Entwurf bis zum Bau, zur Nutzung und zum eventuellen Rückbau und Recycling gebe es in jeder Phase von Bauprojekten eine Möglichkeit, um effizienter und nachhaltiger zu bauen. Einfachere Genehmigungsprozesse und Regelungen, digitale Verfahren in der Branche und mehr Anreize für Qualität und Langlebigkeit sollen zirkuläres Bauen schneller einführen.

„Bis zum Jahr 2025 werden die ersten Kreislaufgebäude in Betrieb sein und als Leuchtturmprojekte für einen Anstieg der langfristigen nachhaltigen Bautätigkeit sorgen“, sagt Marloes Fischer vom globalen Material-Kataster-Startup Madaster mit viel Zuversicht. „Es sollte der Wunsch eines jeden angesehenen Investors oder einer jeden Stadt sein, über ein eigenes Kreislaufbausystem zu verfügen. Anstelle von Gebäuden, die für eine Lebensdauer von 80 bis 100 Jahren gebaut werden, werden zunehmend modulare und demontierbare Konstruktionen zum Einsatz kommen, um sich schneller und flexibler an die Bedürfnisse der Menschen anzupassen.“

Voraussetzung dafür ist die weitgehende Digitalisierung der Industrie. Erst die Vernetzung von Material, Anlagen und IIoT-Plattformen sorgen für die nötige Transparenz, um Prozesse nachhaltiger zu gestalten. Da allerdings wird es schon etwas schwieriger in der Baubranche: Die Digitalisierung als echter Schlüssel zur Modernisierung, zu mehr Effizienz und Nachhaltigkeit, wird viel zu langsam umgesetzt.

 

NEUE CHANCEN FÜR DIE LOGISTIK
Dabei könnte sie in einem weiteren Bereich für den großen Aufbruch sorgen: In der Logistik. Wie das Beispiel der Bahn in der Stahlindustrie anfangs zeigt, sind nachhaltige Lieferketten die Voraussetzung dafür, die industrielle Fertigung CO2-neutral zu gestalten. Doch die Aufgabe der Logistiker geht noch weiter.

Heute bildet klassische Logistik meist den anfänglichen Lebenszyklus eines Produktes ab. Was nach dem Kauf und während der Nutzung von Produkten geschieht, erfährt niemand – der Informationsfluss bricht ab. Nun könnten Logistiker die linear organisierten Lieferketten um Rückführung und Wiederverwertung ergänzen: Güter würden nach der Nutzung vom Kunden wieder zurück zur Quelle bewegt werden, um wiederverwertet zu werden. Möglich, dass künftig Logistiker diese Daten erheben und auswerten oder an das Unternehmen weiterleiten, das das Produkt auf- oder verwertet und recycelt.

Rund um die Bereiche Entsorgungslogistik, Retourenlogistik und Reparaturlogistik entstehen neue Geschäftsmodelle. „Logistiker können sich vom Dienstleistungsunternehmen zum wertschöpfenden Mitglied in der Lieferkette weiterentwickeln“, sagte Martin Neuhold von der Unternehmensberatung EY auf dem Logistikkongress in Berlin. Digitale Prozesse wie beispielsweise Künstliche Intelligenz können die Entwicklung unterstützen. Der Informationskreislauf steuert den Produktkreislauf. Aus linearen Ketten werden echte Kreisläufe – klimafreundlich und mit hoher Ressourceneffizienz.

 

EIN KREISLAUF ZIEHT KREISE
Das Beispiel der Papierindustrie zeigt, wie umfassend der Umbau zur Kreislaufwirtschaft gedacht werden muss.

 

Kein Produktkreislauf ist uns vertrauter als der des Papiers: Seit mehr als 250 Jahren wird in Deutschland Papier gesammelt, gereinigt und neu verwendet. Damals stellte der Jurist Justus Claproth sein Verfahren des Recyclingpapiers vor. Heute sind daraus gut funktionierende Kreisläufe geworden.

Die deutsche Papierindustrie ist Nummer eins in Europa und Nummer vier weltweit: Rund 3.000 unterschiedliche Sorten von Papier, Karton und Pappe für unterschiedlichste Anforderungen werden in Deutschland hergestellt. Das gelingt, weil ein Rohstoff zur Verfügung steht: Altpapier.

Früher, in der DDR, sammelten Schüler Papier. Die SERO – das VEB Kombinat Sekundär-Rohstofferfassung zahlte gut. Im Westen waren Pfadfinder und andere Ehrenamtliche in der Papiersammlung aktiv. Der Vorteil: Staat und Wirtschaft bekamen Ressourcen, die Sammler verdienten gutes Geld dazu.

Die Sammelleidenschaft ist heute nicht verloren gegangen. Die Altpapiercontainer allerorten sind oft schon voll, weil die Menschen es sehr ernst nehmen mit der Entsorgung. Sie wissen: Aus dem Altpapier wird neues Papier, für Verpackungen, Kartons oder Zeitungen. 2019 wurden rechnerisch in Deutschland 227 Kilogramm Pappe, Papier und Karton pro Kopf verbraucht. 177 Kilogramm haben sie anschließend an private und kommunale Entsorger zurückgeben – eine Altpapierrücklaufquote von 78 Prozent hat das Umweltbundesamt ausgerechnet.

Allerdings steht die Branche derzeit vor einigen Herausforderungen. Da ist vor allem ein massiver Preisschub: Während die Nachfrage nach Papieren und Kartons wächst, steigen die Preise für Energie und Rohstoffe. Strom und Gaspreise liegen deutlich über dem Niveau vor der Corona-Krise. Und beim Altpapier hat der Lockdown zu einem sichtbar geringeren Aufkommen aus Handel und Gewerbe geführt, hat der Verband der Papierindustrie festgestellt. Daran ändert auch der verstärkte Verbrauch an Verpackungen beim E-Commerce durch Privathaushalte nichts. Das führt zu hohen Preisen für den Rohstoff, aber auch für Zellstoff – eine starke Nachfrage aus China und der verschobene Aufbau neuer Produktionskapazitäten in Mittel- und Südamerika treiben zusätzlich.

Hinzu kommen logistische Probleme: Die weltweiten Probleme im Seeverkehr und die damit verbundene Knappheit von Containern lassen die Frachtraten massiv steigen. Und im Straßentransport, der für die Papierindustrie eine enorme Rolle spielt, wird Treibstoff durch höhere CO2-Preise teurer.

Und schließlich wird die Branche zum Opfer des eigenen Erfolgs: Weil Papier so umweltfreundlich ist, stellen immer mehr Verpackungshersteller auf Papier um. Allerdings erfolgt dies meist in Verbindung mit Kunststoff oder anderen Beschichtungen, um die Vorteile von Papier mit den Vorteilen von dichteren Verpackungsmaterialien zu verbinden. Die Papierfabrikanten müssen nun zusätzliche Anlagen bauen, um Altpapier und Zellstoff in die jeweiligen Bestandteile aufzulösen und die neuen Verbundstoffe herauszulösen. Der Kreislauf zieht immer weitere Kreise.

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