Radlos im Rathaus

Viele Metropolen in Europa wandeln sich zu fahrradfreundlichen Städten. In Berlin hingegen bremst die neue Regierung bereits geplante Projekte aus. Warum kommt die deutsche Hauptstadt nicht in den Tritt?

Illustrationen: Anna Zaretskaya
Illustrationen: Anna Zaretskaya
Kai Kolwitz Redaktion

Es ist schon wieder passiert. Der Berliner Senat genehmigt den Bezirken derzeit keine neuen Radverkehrsprojekte. Keine Schutzstreifen, keine Radwege, keine Ampeln – nichts. Voraussichtlich bis Juli soll die Sperre bestehen. Nur Vorhaben, die bereits im letzten Jahr begonnen haben, dürfen fertig gestellt werden. Begründet wird das mit der Prüfung von nötigen Einsparungsmaßnahmen. So berichtet der Tagesspiegel.

Seit knapp einem Jahr ist die aktuelle Berliner Stadtregierung im Amt – und das Moratorium ist bereits die zweite Blockade, die sie verhängt. Schon im vergangenen Sommer hatte Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) die komplette Radwegeplanung für mehrere Wochen auf Eis gelegt. Begründung: Man müsse die Projekte des Vorgängersenats aufs Neue prüfen. Zwar wurden die meisten Vorhaben nach Abschluss des Verfahrens genehmigt, wenn auch teils modifiziert. Aber auch hier war schon wertvolle Zeit verstrichen. Vieles, was für 2023 geplant war, wird erst im laufenden Jahr fertig werden. Und neue Projekte werden derzeit erst gar nicht mehr angeschoben.


EUROPAS HAUPTSTÄDTE SETZEN AUF LEBENSQUALITÄT


Damit verlässt Berlin einen – ohnehin spät eingeschlagenen – Weg, dessen Erfolge sich in vielen anderen europäischen Metropolen bereits besichtigen lassen: London richtete Express-Radwege durch die City ein. Paris machte das Seine-Ufer autofrei, zum Wohl von Fußgängern und Radfahrern. Barcelona erfand die „Superblocks“, also Wohnviertel, in denen Fußgänger, Radfahrer – und auch die Autos der Anwohner – freie Fahrt haben, während der motorisierte Schleichverkehr draußen gehalten wird. Selbst Oslo und Helsinki finden sich inzwischen auf vorderen Plätzen der einschlägigen Radfahr-Rankings – dank viel neuer, in den letzten Jahren entstandener Infrastruktur.

Überall dort zeigt sich: Wo Verkehrspolitik wegsteuert vom unbedingten Vorrang für das Auto, da entstehen Freiräume und mehr Lebensqualität. Am deutlichsten ist das dort zu erkennen, wo bereits seit vielen Jahren in Radwege, Abstellmöglichkeiten und Sicherheit für Radfahrende investiert wird – allen voran in den beiden Musterschüler-Metropolen Kopenhagen und Amsterdam.

Schon seit den 1960er- beziehungsweise 70er-Jahren verfolgt man dort durchgehend das politische Ziel, die Situation für den Radverkehr zu verbessern. Und dort zeigt sich auch, was nötig ist, um eine Stadt zu einer fahrradfreundlichen zu machen: Nicht in erster Linie glamouröse Prestigeprojekte – sondern ein langer Atem, Beharrlichkeit, eine langfristige Perspektive und die Bereitschaft, Jahr für Jahr den nächsten Schritt zu gehen.
 

GRÜNE WELLE FÜR RADFAHRENDE


In Kopenhagen etwa werden immer wieder neue Ziele für die kommenden Jahre formuliert und die Situation engmaschig evaluiert. So lassen sich Fahrräder inzwischen kostenlos in der S-Bahn mitnehmen. Es gibt eine Grüne Welle für Tempo 20. Und man ist bei einem Verkehrsleitsystem für den Radverkehr angekommen, das die hoch belasteten Hauptradwege durch die Stadt entlasten soll. Denn die dänische Hauptstadt hat inzwischen im Berufsverkehr ein Stau-Problem unter Radfahrern, die nächsten Erweiterungen sind überfällig und schon in Planung.

Komplett konfliktfrei lief die Umgestaltung allerdings auch in den Niederlanden oder Dänemark nicht ab. Hier wie dort wurde kritisiert – wie in Berlin auch – dass der Platz für die Radwege vor allem den Fußgängern und weniger den Autos weggenommen wurde. Und auf der anderen Seite gab und gibt es auch dort natürlich Autofans – die Proteste der Radaktivisten in Amsterdam schrammten in den Siebzigern nach Berichten von Zeitzeugen manchmal nur knapp an körperlichen Auseinandersetzungen vorbei.

An genau diesem Punkt scheint auch Berlin inzwischen angekommen zu sein. Poller, die Fahrradstraßen vor Durchgangsverkehr mit dem Auto schützen sollen, werden im Jahr 2024 in der Hauptstadt immer wieder aufs Neue gestohlen oder mutwillig umgefahren. Und fehlen solche Absperrungen, werden die Regeln von erheblichen Teilen des Autoverkehrs ignoriert, wie Zählungen zum Beispiel im Bezirk Pankow ergaben. Auch der Unfall, bei dem im März am Potsdamer Platz eine Mutter und ihr Kind starben, konnte nur geschehen, weil ein Autofahrer mit überhöhtem Tempo einen Stau über einen nicht baulich abgetrennten Fahrradstreifen umfahren wollte.

Illustrationen: Anna Zaretskaya
Illustrationen: Anna Zaretskaya

Dabei schien es lange, als ob Berlin als fahrradfreundliche Stadt endlich auf einem guten Weg sei. Informell darüber abgestimmt hatten die Bewohner schon seit der Wende, mit den Füßen auf den Pedalen: Zwischen Mitte der 1990er-Jahre und 2016 verzweieinhalbfachte sich der Radverkehr laut offiziellen Zählungen. Unzureichende Infrastruktur wurde zunehmend zum Problem.

2016 gründete sich deshalb die Bürgerinitiative „Volksentscheid Fahrrad“. In nicht einmal einem Monat sammelte sie über 100.000 Unterschriften für eine Abstimmung der Bürger. Das Verfahren mündete in einem ambitionierten Mobilitätsgesetz, das unter anderem den Ausbau des Berliner Radwegenetzes auf knapp 2400 Kilometer festschrieb, davon knapp 900 Kilometer mit besonders guten Standards.

In der Endphase der rot-rot-grünen Regierung wurden die Effekte dieser Planung langsam sichtbar. An diversen Hauptstraßen entstanden breite, geschützte Radspuren, teilweise auch auf Kosten von Fahrspuren oder Parkplätzen für Autos. Vieles wirkt heute zwar noch wie ein Flickenteppich, aber immerhin, ein Anfang war gemacht. In Sachen gefühlte Sicherheit sind die neuen Abschnitte ein Quantensprung.
 

„BERLIN IST AUCH FÜR AUTOFAHRER DA“


Doch dann kam der Regierungswechsel. Die CDU des heutigen Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner hatte schon im Wahlkampf mit dem Slogan „Berlin ist für alle da. Auch für Autofahrer“ geworben. Und nach seinem Amtsantritt dauerte es nicht lange, bis seine Regierung lieferte. Erst wurde die zuvor gesperrte Friedrichstraße wieder für den motorisierten Verkehr freigegeben. Dann kam das Moratorium für den Radwegbau. Forciert wird dagegen der Weiterbau der Stadtautobahn, die dank Flussquerung, Tunnelbauten und einer Hochbrücke über ein Berliner Einkaufszentrum wohl zu den teuersten Abschnitten der deutschen Geschichte gehören wird.

Wohin führt der Weg in der Hauptstadt? Für Berlin stehen richtungsweisende Jahre an. In Kopenhagen dagegen ist inzwischen so viel Infrastruktur und Komfort für den Radverkehr entstanden, dass sich die Situation kaum noch umkehren lassen dürfte. Rund 45 Prozent aller Berufspendler fahren dort inzwischen laut Befragungen mit dem Rad oder einem elektrisch angetriebenen Pedelec zur Arbeit. Würde man die Kopenhagener darüber abstimmen lassen, ob sie sich eine autogerechte Stadt zurückwünschen würden – schwer vorstellbar, dass dies eine Mehrheit fände. 

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