Wachsender Welthandel

Trotz geoökonomischer Herausforderungen erweist sich der Welthandel insgesamt als ausgesprochen robust.

Illustration: Josephine Warfelmann
Illustration: Josephine Warfelmann
Lara Marie Müller Redaktion

Es scheint, als hören die Turbulenzen für den Welthandel nicht auf: Der Krieg in der Ukraine ist weiterhin in vollem Gange und beeinflusst Lieferketten. Als Nachwehen der Corona-Pandemie sind in einigen Ländern protektionistische Maßnahmen beliebt geworden. Außerdem weckten in den letzten Monaten durch eine straffere Geldpolitik ans Licht getretene Turbulenzen im Bankensektor Sorgen vor einer Weltwirtschaftskrise. Trotz dieser Herausforderungen scheint das multilaterale Handelssystem den Störungen einigermaßen gut standzuhalten, wie aktuelle Berichte der Welthandelsorganisation (WTO) zu den Entwicklungen im globalen Handel suggerieren.

So verzeichnete der Welthandel laut dem jüngsten WTO-Bericht zur Handelsentwicklung seit Kriegsbeginn in der Ukraine im Jahr 2022 trotzdem ein Wachstum, und das sogar in Wirtschaftszweigen, die stark von dem Krieg betroffen waren. Zu Kriegsbeginn hatten die WTO-Experten teilweise vor einer Halbierung des weltweiten Handelsvolumens und vor humanitären Krisen wegen potenziell fehlender Warenlieferungen gewarnt. Diese Schreckensszenarien blieben zum Glück größtenteils aus.
 
Stabilität durch flexible Lieferketten
 
Nun steht als vorläufige Schätzung ein Handelswachstum von rund drei Prozent in der Jahresbilanz 2022 – ein starker Kontrast zu dem noch im April 2022 von der WTO prognostizierten Rückgang von circa zwei Prozent. Und diese Stabilität des Handels zeigt sich auch in der Entwicklung der Lieferketten weltweit: Diese wuchsen, gemessen am Handel mit Vorleistungsgütern, im Jahresvergleich zu 2021 um sogar ungefähr vier Prozent. Grund für die insgesamt recht stabile Lage waren alternative Lieferanten, die es selbst bei kurzfristigen und unerwarteten Störungen aufgrund des Krieges schafften, für die Mehrzahl der vom Konflikt betroffenen Produkte die Lücken zu füllen.

Beispielsweise war Äthiopien von Kriegsausbruch für 45 Prozent seiner Weizenimporte auf die Ukraine und Russland angewiesen. Das Land reagierte auf den Verlust der meisten Lieferungen aus den beiden Ländern mit verstärkten Käufen bei anderen Produzenten. Die Lieferungen aus den USA zum Beispiel stiegen mengenmäßig etwa um 20 Prozent. Noch markanter ist das Beispiel Argentinien: Das südamerikanische Land hatte vor Kriegsausbruch gar keinen Weizen an Äthiopien verkauft und trug 2022 zu stolzen 21 Prozent der gesamten Importe des Landes bei.

Für die Handelsbilanz der Ukraine selbst war der Kriegsausbruch selbstverständlich fatal. Die Exporte des Landes sind 2022 wertmäßig um rund 30 Prozent eingebrochen. Dies traf so ziemlich alle Handelspartner – außer jene mit einer sehr guten Anbindung von Handelsrouten über das Land. Polen und Ungarn etwa erhöhten ihre Importe aus der Ukraine. Sie kauften aber vor allem mehr Ölsaaten, Fette, Öle, Fleisch und Milchprodukte. Die für viele afrikanische Volkswirtschaften ehemals sehr wichtigen, nun nicht möglichen Getreideexporte konnten dadurch nur schwach abgefedert werden.

»Beim Welthandel sieht die WTO für 2023 ein Wachstum von 1,7 Prozent – optimistischer als die Prognose aus dem Oktober 2022.«

Und ein knapperes Angebot führt bekanntermaßen zu Teuerungen. Die Preise für die am stärksten vom Krieg betroffenen Waren stiegen auch, jedoch ebenfalls weniger stark als zu Beginn des Krieges erwartet. Am wenigsten stark stiegen die Preise für Palladium, einen wichtigen Rohstoff für die Produktion von Katalysatoren im Automobilsektor. Es wurde um 4,4 Prozent teurer. Am stärksten verteuerte sich der Mais mit einem Preiszuwachs von 24,2 Prozent. Diese Preissteigerungen sind zwar erheblich, liegen aber deutlich unter den düstersten Prognosen. Von WTO-Ökonomen durchgeführte Simulationen sagten etwa einen Anstieg der Weizenpreise um bis zu 85 Prozent in einigen Regionen mit niedrigem Einkommen vorher. Der tatsächliche Anstieg betrug 17 Prozent.

Optimistische Prognose für 2023
 
Auch für 2023 rechnen die Handelsexperten der WTO für die Weltwirtschaft mit einem Zuwachs. Die im April veröffentlichte, jüngste Schätzung geht von einem realen globalen BIP-Wachstum von immerhin 2,4 Prozent aus. Zum Vergleich: Im Durchschnitt war das globale, reale BIP in den vergangenen 12 Jahren jährlich ungefähr um 2,6 Prozent gewachsen, also nur etwas stärker.

Für den Welthandel geht die WTO aktuell für 2023 von einem Wachstum von 1,7 Prozent aus. Das ist optimistischer als die vorherige Prognose aus dem Oktober 2022, bei der die Experten für das laufende Jahr ein Wachstum von ungefähr einem Prozent vorhergesagt hatten. Der Optimismus kommt vor allem von dem gelockerten Umgang mit der COVID-Pandemie in China, der im Oktober auf diese Weise noch nicht absehbar war. Die lockereren Kontrollen setzen aktuell in der weltweit größten Volkswirtschaft eine während der Lockdowns aufgestaute Nachfrage frei und kurbeln damit Handelsströme an.

Illustration: Josephine Warfelmann
Illustration: Josephine Warfelmann

„Der Handel ist nach wie vor eine Kraft für die Widerstandsfähigkeit der Weltwirtschaft, wird aber auch im Jahr 2023 weiterhin unter dem Druck externer Faktoren stehen“, kommentierte WTO Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala die jüngste Prognose aus ihrem Haus. Umso wichtiger sei es für Regierungen, eine Fragmentierung des Handels zu vermeiden und keine Handelshemmnisse einzuführen. „Investitionen in die multilaterale Handelskooperation, wie es die WTO-Mitglieder auf unserer Zwölften Ministerkonferenz im vergangenen Juni getan haben, würden das Wirtschaftswachstum und den Lebensstandard der Menschen langfristig stärken“, so Okonjo-Iweala.

Eine längerfristige Folge der Corona-Pandemie und des Kriegsausbruchs in der Ukraine ist die momentan in vielen Ländern sehr hohe Inflation. Als Reaktion darauf haben zahlreiche Notenbanken die Leitzinsen sukzessive erhöht – die amerikanische Notenbank Federal Reserve etwa Anfang Mai schon das zehnte Mal in Folge, die Europäische Zentralbank kurz darauf zum siebten Mal.

„Die Zinserhöhungen in fortgeschrittenen Volkswirtschaften haben auch Schwächen in den Bankensystemen offenbart, die zu einer größeren Finanzinstabilität führen könnten, wenn sie nicht kontrolliert werden“, kommentierte WTO-Chefökonom Ralph Ossa die Entwicklung. Regierungen und Regulierungsbehörden müssten in den kommenden Monaten auf diese und andere finanzielle Risiken achten, um Schlimmeres zu vermeiden.

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