»Kein Trend wird den Handel so prägen wie die Neo-Ökologie«

In Zukunft ist die Frage nach online oder stationär vielleicht gar nicht mehr relevant, glaubt Zukunftsforscherin Theresa Schleicher. Nachhaltigkeit wird den Konsum bestimmen.

Illustration: Josephine Warfelmann
Illustration: Josephine Warfelmann
Interview: Julia Thiem Redaktion

Frau Schleicher, die Coronapandemie hat den E-Commerce befeuert, weil stationärer Einkauf jenseits des Lebensmittelhandels kaum oder nur stark eingeschränkt möglich war. Wie ist die Lage heute?
Wir beobachten weiter ein Wachstum, aber es wird geringer. Zum ersten Mal haben größere, reine Onlinehändler Probleme, ihre Umsatz- und Gewinnziele zu erreichen. Nach all den Einschränkungen haben Menschen wieder Lust, stationär einzukaufen, Produkte anzufassen und zu erleben. Auch der Trend zur Nachhaltigkeit spielt hier rein.

Das ist interessant, da es ja zwischenzeitlich bereits den Abgesang des stationären Handels gab und deutschen Innenstädten ein Sterben prophezeit wurde. Haben beide doch noch eine Chance?
Der stationäre Handel wurde gefühlt schon Hunderte Male zum Sterben verurteilt – und ist trotzdem nach wie vor sehr erfolgreich. Der Megatrend der Neo-Ökologie, also der Nachhaltigkeit, sorgt dafür, dass Menschen verstärkt darauf achten, was und wie viel sie einkaufen – auch in Kombination mit der hohen Inflation. Das setzt den Handel, online wie auch stationär, stark unter Druck. Und dieser Trend wird sicher nicht nächstes Jahr abgeschlossen sein, sondern den Handel in seiner Gänze verändern.

Weil insgesamt weniger eingekauft wird?
Richtig. Es wird aber auch neue Händler, Marken und Unternehmen geben, die neue Produktinnovationen im Angebot haben. Dieser Prozess hat jetzt schon begonnen. Wir beobachten aktuell viele Insolvenzen, ausgelöst durch geringeren Umsatz, wie etwa im Textilhandel. Das führt dazu, dass die Anzahl der Filialen und Produktangebote in den Innenstädten abnimmt. Will der Handel auf diesen Trend nachhaltig reagieren, muss er sich auf weniger Filialen konzentrieren – mit der Konsequenz, dass Innenstädte sich neu strukturieren und sich neue Funktionen jenseits des reinen Konsums etablieren. Die Gastronomie wird hier eine wichtige Rolle spielen, genauso wie neue Lebensräume, also mehr Grünzonen, mehr Arbeitsorte und auch mehr Wohnraum.

Weil die Stichworte Inflation und Insolvenzen schon gefallen sind: Derzeit werden viele Galeria-Karstadt-Kaufhof-Filialen geschlossen, die Lücken im Innenstadtbild hinterlassen werden. Täuscht es oder wird es für den Einzelhandel auch nach der Pandemie nicht leichter?
Natürlich sind Insolvenzen erst einmal keine gute Nachricht. Allerdings sind es auch Entwicklungen, die an der einen oder anderen Stelle längst überfällig waren. Die Handelsunternehmen, die viel zu lange noch auf Basis der alten Regeln agiert haben, werden abgelöst. Filialen, die jetzt in den Innenstädten schließen, schaffen damit Raum für Marken einer neuen Mitte, die bieten, was Konsumenten heute wollen. Denn die schauen mittlerweile sehr viel genauer hin bei Werten, Qualität und Nachhaltigkeit.

Wir erleben hier also gerade disruptive Verwerfungen …
… beziehungsweise die Konsequenz für Handelsunternehmen, deren Veränderungsbereitschaft nicht groß genug war und die den Menschen nicht in den Vordergrund gestellt haben. Genau das ist bei Galeria Karstadt Kaufhof passiert. Die zentralen Innenstadtlagen waren ja zunächst etwas Positives: die Marken, die Angebote, das Einkaufserlebnis, eine Aufwertung durch digitale Services oder Gastronomie. Aber eben nicht das, was eine junge Generation sich heute wünscht.

Gibt es auch positive Aspekte der Coronakrise für den Handel?
Ich glaube, wir sind insgesamt als Gesellschaft sehr positiv aus der Krise hervorgegangen. Es sind viele neue Lösungen entstanden, die heute im Alltag integriert sind. Der kleinste Händler hat es geschafft, mit einfachen Tools wie WhatsApp neue Kundenservices einzuführen. Aber der vielleicht wichtigste Aspekt: Wir haben gelernt, mit Krisen umzugehen. Denn die werden uns auch in Zukunft immer wieder begleiten.

Wie lautet vor diesem Hintergrund Ihr Rat für den Handel?
Die Frage nach Wachstum sollte neu beantwortet werden. Geht es um Umsatz, geht es um Gewinn oder vielleicht auch darum, einen positiven gesellschaftlichen Beitrag zu leisten? Ist mein Produkt, meine Dienstleistung energieeffizient? Muss ich neue Produkte entwickeln, die wirklich klimaneutral sind? Wenn der Handel all das bedenkt, muss die Frage, ob Menschen noch in die Innenstädte kommen, vielleicht gar nicht mehr beantwortet werden. Denn wer den Ansprüchen der Menschen gerecht wird, wird Erfolg haben – auf einer stationären Fläche, im Online-Shop oder auch über die Plattform eines anderen Anbieters.

Welche Zukunft sehen Sie für den Einzelhandel in den kommenden fünf bis zehn Jahren?
Kein Trend wird den Handel so prägen wie die Neo-Ökologie. Bis 2040 wird die Ressourcenknappheit zunehmen, inklusive großer Flächenbrände und anderer Klimaprobleme. Das verändert die Herstellung von Produkten genauso wie die Konsumbereitschaft. Die Relevanz des Einzelhandels wird dadurch abnehmen, weshalb er sich etwas Neues einfallen lassen muss – und zwar in der Verantwortung und im Kontext einer nachhaltigen Welt. Marken und Produkte, die es schaffen, Lust auf einen bewussten Konsum zu erzeugen, werden zu den Gewinnern zählen.

Theresa Schleicher
Theresa Schleicher

THERESA SCHLEICHER
ist eine der führenden Retail-Beraterinnen Deutschlands und seit 2010 als strategische Beraterin und Rednerin für das Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main und Wien tätig. Im Retail Report fasst sie seit 2015 einmal pro Jahr Trends und Entwicklungen der Branche zusammen.

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