Herr Prof Schmauder, im Jahr 2023 gab es in Deutschland so wenig Arbeitsunfälle wie nie zuvor. Ist das Zufall oder das Ergebnis einer verbesserten Arbeitsschutzpolitik in den Betrieben?
Vermutlich beides. Bei einem Arbeitsunfall spielt stets auch der Faktor Wahrscheinlichkeit eine Rolle, da ein solcher Unfall auch durch Zufall eintreten kann. Andererseits sind in unserem Land rund 46 Millionen Menschen beschäftigt. Das Gesetz der großen Zahlen besagt, dass zufällige Schwankungen seltener werden. Daher lässt sich festhalten, dass die Maßnahmen des Arbeitsschutzes in den Betrieben ihre beabsichtigte Wirkung entfalten. Unternehmen, die sich für eine gute Arbeitsschutzpolitik entscheiden und das Ziel "Wir wollen gute Arbeitsbedingungen" verfolgen, werden ihre Standards verbessern. Die Erfahrung zeigt, dass sich dies auszahlt.
Welche Rolle spielt der Arbeitsschutz in den Betrieben?
In Deutschland sind drei Akteure maßgeblich an der Umsetzung von Arbeitsschutzmaßnahmen beteiligt. Die Gesetzgebung obliegt dem Staat, der den Standard zum Schutz der Beschäftigten erlässt, der von jedem Betrieb eingehalten werden kann. Die Unfallversicherungsträger haben die Aufgabe, die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten zu entschädigen. Es liegt in ihrem Interesse, das Risiko von Unfällen und Berufskrankheiten zu minimieren. Dazu haben sie Regeln aufgestellt, deren Einhaltung dazu beiträgt, das Risiko weiter zu reduzieren. Nach meiner Einschätzung sind die Betriebe aber die wichtigsten Akteure beim Arbeitsschutz. Sie treffen die Entscheidung, welchen Stand von Sicherheit und Gesundheitsschutz sie anstreben. Dabei stellt sich die Frage, ob die angestrebten Maßnahmen lediglich die Mindestanforderungen erfüllen oder ob die Beschäftigten durch gute Arbeitsbedingungen einen zeitgemäßen Standard erhalten, der ein gesundes Arbeiten bis zur Rente ermöglicht. Mit diesem System steht Deutschland im internationalen Vergleich gut da und dient vielen Ländern als Orientierung.
Die Statistik zeigt auch, dass es Berufsfelder gibt, die offensichtlich gefährlicher sind oder erscheinen als andere. Wer ist am Arbeitsplatz besonders gefährdet?
Die Dosis macht das Gift. Es gibt zweifelsfrei Berufsfelder, insbesondere im Baugewerbe, die mit größeren Gefahren verbunden sind. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Begriff der Gefährdung häufig auf körperliche Belastungen beschränkt ist und psychische Gefährdungen dabei meist außer Acht gelassen werden.
Wie blickt ein Arbeitswissenschaftler darauf?
Selbstverständlich sind körperliche Gefährdungen ein wesentlicher Aspekt. Rund 25 Prozent der Krankheitstage in den Betrieben sind auf Muskel-Skelett-Erkrankungen zurückzuführen. Es besteht also weiterhin Handlungsbedarf hinsichtlich der Optimierung der Arbeitsbedingungen. Dabei ist jedoch auch die Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass wir uns heute vielfach mit Erkrankungen befassen, deren Ursachen in den vergangenen 15 bis 20 Jahren geschaffen wurden.
Der Fokus auf körperliche Beschwerden ist auch dadurch zu erklären, dass diese für jeden sichtbar sind. Das Ursache-Wirkungs-Prinzip ist offenkundiger, beispielsweise wenn wir den oft genannten Dachdecker nehmen. Es lässt sich damit auch bestimmten Berufsgruppen oder Branchen zuordnen. Im Falle psychischer Erkrankungen verhält es sich anders. Sie können beispielsweise aus einer Überforderung resultieren, ihre Ursache kann jedoch auch in nicht erfüllten Erwartungen liegen. Dies bedeutet, dass es keinen einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang gibt, der immer am Arbeitsplatz beseitigt werden kann.