»Vision Zero« heißt das Ziel

Was bedeutet: Unfälle und Erkrankungen am Arbeitsplatz sollen verhindert werden. Mit welchen Maßnahmen? Fragen an den Arbeitswissenschaftler Prof. Dr. Martin Schmauder von der TU Dresden.

Illustration: Marcela Bustamante
Illustration: Marcela Bustamante
Interview: Thomas Feldhaus Redaktion

Herr Prof Schmauder, im Jahr 2023 gab es in Deutschland so wenig Arbeitsunfälle wie nie zuvor. Ist das Zufall oder das Ergebnis einer verbesserten Arbeitsschutzpolitik in den Betrieben?

Vermutlich beides. Bei einem Arbeitsunfall spielt stets auch der Faktor Wahrscheinlichkeit eine Rolle, da ein solcher Unfall auch durch Zufall eintreten kann. Andererseits sind in unserem Land rund 46 Millionen Menschen beschäftigt. Das Gesetz der großen Zahlen besagt, dass zufällige Schwankungen seltener werden. Daher lässt sich festhalten, dass die Maßnahmen des Arbeitsschutzes in den Betrieben ihre beabsichtigte Wirkung entfalten. Unternehmen, die sich für eine gute Arbeitsschutzpolitik entscheiden und das Ziel "Wir wollen gute Arbeitsbedingungen" verfolgen, werden ihre Standards verbessern. Die Erfahrung zeigt, dass sich dies auszahlt.
 

Welche Rolle spielt der Arbeitsschutz in den Betrieben?

In Deutschland sind drei Akteure maßgeblich an der Umsetzung von Arbeitsschutzmaßnahmen beteiligt. Die Gesetzgebung obliegt dem Staat, der den Standard zum Schutz der Beschäftigten erlässt, der von jedem Betrieb eingehalten werden kann. Die Unfallversicherungsträger haben die Aufgabe, die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten zu entschädigen. Es liegt in ihrem Interesse, das Risiko von Unfällen und Berufskrankheiten zu minimieren. Dazu haben sie Regeln aufgestellt, deren Einhaltung dazu beiträgt, das Risiko weiter zu reduzieren. Nach meiner Einschätzung sind die Betriebe aber die wichtigsten Akteure beim Arbeitsschutz. Sie treffen die Entscheidung, welchen Stand von Sicherheit und Gesundheitsschutz sie anstreben. Dabei stellt sich die Frage, ob die angestrebten Maßnahmen lediglich die Mindestanforderungen erfüllen oder ob die Beschäftigten durch gute Arbeitsbedingungen einen zeitgemäßen Standard erhalten, der ein gesundes Arbeiten bis zur Rente ermöglicht. Mit diesem System steht Deutschland im internationalen Vergleich gut da und dient vielen Ländern als Orientierung. 
 

Die Statistik zeigt auch, dass es Berufsfelder gibt, die offensichtlich gefährlicher sind oder erscheinen als andere. Wer ist am Arbeitsplatz besonders gefährdet?

Die Dosis macht das Gift. Es gibt zweifelsfrei Berufsfelder, insbesondere im Baugewerbe, die mit größeren Gefahren verbunden sind. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Begriff der Gefährdung häufig auf körperliche Belastungen beschränkt ist und psychische Gefährdungen dabei meist außer Acht gelassen werden.
 

Wie blickt ein Arbeitswissenschaftler darauf?

Selbstverständlich sind körperliche Gefährdungen ein wesentlicher Aspekt. Rund 25 Prozent der Krankheitstage in den Betrieben sind auf Muskel-Skelett-Erkrankungen zurückzuführen. Es besteht also weiterhin Handlungsbedarf hinsichtlich der Optimierung der Arbeitsbedingungen. Dabei ist jedoch auch die Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass wir uns heute vielfach mit Erkrankungen befassen, deren Ursachen in den vergangenen 15 bis 20 Jahren geschaffen wurden. 

Der Fokus auf körperliche Beschwerden ist auch dadurch zu erklären, dass diese für jeden sichtbar sind. Das Ursache-Wirkungs-Prinzip ist offenkundiger, beispielsweise wenn wir den oft genannten Dachdecker nehmen. Es lässt sich damit auch bestimmten Berufsgruppen oder Branchen zuordnen. Im Falle psychischer Erkrankungen verhält es sich anders. Sie können beispielsweise aus einer Überforderung resultieren, ihre Ursache kann jedoch auch in nicht erfüllten Erwartungen liegen. Dies bedeutet, dass es keinen einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang gibt, der immer am Arbeitsplatz beseitigt werden kann.

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Es gibt also eine Wechselwirkung zwischen Arbeitsplatz und persönlichen Lebensumständen?

Das ist auf jeden Fall auch ein Aspekt. Nehmen wir das vermeintlich sichere Büro. Auch hier stellt das Muskel-Skelett-System inzwischen eindeutig ein großes Risiko dar. Wir sitzen zu viel, nicht nur am Arbeitsplatz. Das lässt sich nun leider nicht technisch lösen, sondern muss im Verhalten der Personen verankert werden.
 

Am Markt werden zahlreiche Hilfsmittel angeboten, von höhenverstellbaren Schreibtischen bis hin zu sogenannten Exoskeletten. Was können diese leisten?

Die Einführung höhenverstellbarer Schreibtische hat sich in vielen Betrieben bewährt und fördert die Bewegung im Arbeitsalltag. Dies ist aus Sicht des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz zu begrüßen. Der Einsatz von Exoskeletten ist jedoch eine zweischneidige Sache. Nutzt man sie, um die Leistung zu erhöhen oder um den Menschen zu schützen? Im Rahmen des Arbeitsschutzes ist es von entscheidender Bedeutung, die Ursachen zu beheben, anstatt den Menschen an die Belastung anzupassen. Bei der Nutzung eines Exoskeletts erfolgt lediglich eine Verlagerung der Belastung, nicht jedoch eine Verringerung. Diese Vorgehensweise kann punktuell sinnvoll sein, für einen langfristigen Einsatz ist sie jedoch nicht geeignet. Ich empfehle, diese erst zu nutzen, wenn alle anderen Maßnahmen des Arbeitsschutzes ausgeschöpft sind.
 

Das Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) hat in einer Studie untersucht, dass viele Arbeitsunfälle durch Manipulation von Schutzeinrichtungen verursacht werden. Wie sieht ein optimales Schutzkonzept aus?

Die Akzeptanz von Arbeitsprozessen und Maschinen durch die Beschäftigten ist maßgeblich von der Reibungslosigkeit ihrer Funktion abhängig. Diesem Anspruch müssen auch Schutzkonzepte genügen. Ihre Intention ist nicht, den Menschen in ihrem Tatendrang zu bremsen, sondern Unfälle zu verhindern. Wenn die Hersteller nicht auf die Bedürfnisse der Nutzer eingehen, besteht die Gefahr, dass die Maschine nicht einwandfrei funktioniert, was wiederum einen Anreiz zur Manipulation schafft. Ein abgestimmtes Pflichtenheft ist erforderlich, um dem Hersteller Vorgaben zu machen, wie der Betreiber an und mit dieser Maschine arbeiten will. Dieser Aspekt ist auch in der Maschinenrichtlinie enthalten. Der Hersteller muss vorhersehbare Fehlanwendung bereits bei der Entwicklung der Maschine berücksichtigten. Eine Lösung, die seitens des Nutzers keine Akzeptanz findet, ist keine gute Lösung.
 

Welche Rolle spielt der Arbeitsschutz im Homeoffice?

Bei der Einrichtung eines Homeoffice ist es unerlässlich, potenzielle Risiken zu identifizieren und zu bewerten, auch wenn die Vorteile auf den ersten Blick überwiegen. Auch hier ist Selbstdisziplin gefragt, denn Muskel-Skelett-Erkrankungen bilden sich schleichend über einen längeren Zeitraum. Es wird empfohlen, bewährte betriebliche Standards auch im Homeoffice beizubehalten. Die langfristigen Auswirkungen auf die Kollegialität und Kommunikation lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschätzen.
 

ZUR PERSON

PROF. DR.-ING. MARTIN SCHMAUDER ist Professor für Arbeitswissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf den Bereichen Arbeitsorganisation, menschengerechte Arbeitsgestaltung, Ergonomie und Sicherheit am Arbeitsplatz.

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