Bereits am 28. Juli 2022 war „Earth Overshoot Day“. Damit hatte die Menschheit ihr Budget zwei Tage früher ausgeschöpft als im Jahr zuvor. An diesem Erdüberlastungstag, der im Kalender immer weiter nach vorne rückt, sind alle nachhaltig nutzbaren Ressourcen eines Jahres bereits verbraucht. Das Global Footprint Network berechnet dieses Datum jedes Jahr. Dabei setzt die Non-Profit-Organisation zwei Größen in Relation: einerseits die biologische Kapazität der Erde zum Aufbau von Ressourcen sowie zur Aufnahme von Müll und Emissionen; andererseits unseren Bedarf an Wäldern, Flächen, Wasser, Ackerland und Fischgründen, den wir aktuell in Anspruch nehmen.
In Deutschland, wo viele sich nicht nur als ökonomische Champions, sondern auch als ökologische Vorbilder betrachten, sieht die Bilanz noch schlechter aus als im globalen Durchschnitt. Der Erdüberlastungstag war hierzulande im vergangenen Jahr bereits am 4. Mai erreicht. Um ihren Ressourcenbedarf nachhaltig zu decken, bräuchte die Weltbevölkerung rechnerisch rund 1,75 Planeten. Würden alle Länder so haushalten wie Deutschland, wären drei Erden nötig. Nicht zuletzt in der Industrie- und High-Tech-Nation kann man also noch einiges besser machen.
Ökologische und ökonomische Interessen führen dabei in die gleiche Richtung: „Momentan zeigt sich einmal mehr, wie wichtig funktionierende Lieferketten und eine sichere Material- und Rohstoffversorgung sind“, betont Darya van de Sandt-Nassehi, Geschäftsführer der TMG Consultants. „Wer die Möglichkeit nutzt, in seiner Produktion zu großen Teilen ‚gebrauchte‘ Komponenten zu verwenden, reduziert damit nicht nur seine Beschaffungskosten, sondern verringert in gewisser Weise auch Versorgungs- und Verfügbarkeitsrisiken.“ Gerade Deutschland müsse sowohl Umfang als auch Tempo beim Umwelt- und Klimaschutz erhöhen, fordert das Umweltbundesamt, das in seiner Studie „Wege in eine ressourcenschonende Treibhausgasneutralität“ herausgearbeitet hat, wie dies gelingen kann: „So sollten vor allem die deutschen Minderungsziele für Treibhausgasemissionen bis 2030 von 55 auf 70 Prozent angehoben werden, um die deutsche Klimapolitik auf den in Paris 2015 beschlossenen 1,5-Grad-Pfad zu bringen.“
»Die Wirtschaft der Zukunft wird
in weiten Teilen zirkular sein.«
Mit der Energiewende allein ist es bei alldem noch nicht getan. Sowohl mit Blick auf klimaneutrales Wirtschaften als auch zur langfristigen Sicherung des immer weiter steigenden Ressourcenbedarfs gewinnt das Konzept der Kreislaufwirtschaft immer größere Bedeutung. „Der ungebremste Anstieg des globalen Ressourcenverbrauchs ist Hauptverursacher des globalen Klimawandels und des Biodiversitätsverlusts“, sagt Anke Brüggemann, die in der Volkswirtschaftlichen Abteilung der KfW für Erneuerbare Energien, Energieeffizienz in Unternehmen und Ressourceneffizienz zuständig ist. Gleichzeitig nehme die Konkurrenz um knappe Rohstoffe zu. „Angesichts dieser Herausforderungen soll die Circular Economy einen Beitrag dazu leisten, eine nachhaltige und wettbewerbsfähige Wirtschaft zu schaffen.“ Mit Blick auf die abfallwirtschaftliche Seite – sprich: Recycling – gehört Deutschland laut der KfW-Expertin zu den Vorreitern in der EU.
Bezüglich der Themen Abfallvermeidung, lange Produktnutzungsdauer, recyclingfreundliche Produktgestaltung sowie Materialeffizienz zeige sich aber, dass Deutschland, wie Gesamteuropa, noch große Entwicklungspotenziale aufweise. Die Umsetzung einer Kreislaufwirtschaft erfordere daher, so Brüggemann, „einen klaren regulativen Rahmen sowie wirtschaftliche Anreize.“ Nach einem bereits 2015 von der EU-Kommission veröffentlichten „EU Action Plan for the Circular Economy“, kommt mit „Fit für 55“ nun ein weiterer Schritt in diese Richtung.
„Noch steckt das zirkuläre Wirtschaften hierzulande in den Kinderschuhen. Doch dies wird sich über kurz oder lang ändern“, so van de Sandt-Nassehi. „Die Wirtschaft der Zukunft wird in weiten Teilen zirkular sein. Und da ist es nur ratsam, sich möglichst frühzeitig mit diesem Modell ‚anzufreunden‘“. Die Circular Economy erfordert grundlegende Veränderungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Ihr Grundprinzip lautet, Ressourcen jeder Art so lange wie möglich einzusetzen. Dabei wird der gesamte Lebenszyklus berücksichtigt: von der Gewinnung einzelner Rohstoffe über die Produktgestaltung, die Produktion und den Verbrauch bis hin zur Abfallwirtschaft. Jeder Schritt orientiert sich an der Maßgabe, sowohl den Materialeinsatz als auch die Abfallentstehung zu minimieren. Dies erreicht man durch ressourcenschonendes Produktdesign, durch Recycling und Wiederverwendung von ganzen Produkten, deren Bestandteilen beziehungsweise einzelnen ihrer Materialien.
So lassen sich Sekundärrohstoffe durch Recycling aus entsorgtem Material gewinnen. Abfall wird in der Kreislaufwirtschaft zu einer Ressource. Wer sich diese lange unterschätzten Werte nutzbar macht, reduziert nicht nur seinen Bedarf an den begrenzten natürlichen Vorkommen unseres Planeten und senkt seinen CO2-Ausstoß. Weil Rohstoffe einen erheblichen Kostenfaktor für Unternehmen darstellen, zahlt Effizienz im Umgang mit ihnen sich in vielen Fällen in erheblichem Maße aus – etwa durch geringere Herstellungskosten und Abfallvermeidung. Akteure diverser Branchen achten verstärkt darauf, über klassische Optimierungsmaßnahmen weniger Ressourcen zu verbrauchen. Doch nur wenige streben bislang eine echte Kreislaufwirtschaft an oder eine Vernetzung mit Akteuren entlang der Wertschöpfungskette.
Ein Neubau aus alten Beständen
Einige wegweisende Projekte findet man mittlerweile in der Baubranche – nicht zuletzt, weil dort besonders großer Handlungsbedarf besteht. Sie ist für 38 Prozent der weltweiten Treibhausgase verantwortlich. Allein in Deutschland fallen jährlich rund 900 Millionen Tonnen Abfall an. Dieses Gewicht entspricht dem 150-fachen der Cheops-Pyramide. Mit knapp 55 Prozent haben die Bau- und Abbruchabfälle daran den größten Anteil. Nur knapp 34 Prozent davon werden recycelt. Vor allem wertvolle Metalle und Baumineralien sind oftmals lange Zeit – nicht selten über Jahrzehnte – in Infrastrukturen und Gebäuden eingelagert. Auf diese Weise haben sich enorme Materialbestände angesammelt, die großes Potenzial als zukünftige Quelle für Sekundärrohstoffe bergen. Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang vom Urban Mining, der Stadt als Mine voller Rohstoffe
Wie man diese Mine konsequent für sein Projekt nutzen kann – statt Energie für die Produktion neuer Materialien aufzuwenden –, zeigt ein Recyclinggebäude des Architekturbüros Cityförster. Das Einfamilienhaus in Hannover wurde im Auftrag und in enger Zusammenarbeit mit dem Auftraggeber, dem Wohnungs- und Bauunternehmen Gundlach, umgesetzt. Es besteht aus gebrauchten, recycelten oder recyclingfähigen Materialien. Ein Vorteil bei diesem Projekt: Die Materialien des zweistöckigen Hauses konnten zum großen Teil Immobilienbeständen, Abbruch- und Umbauvorhaben aus Gundlach-Beständen entnommen werden. Rund 90 Prozent der Fassadenbekleidungen sowie sämtliche Außentüren und Fensterrahmen sind re-used. Die Fassadendämmung etwa besteht aus ehemaligen Kakaobohnen-Jutesäcken. Als Fundament dient Recyclingbeton, der Anteil des Altmaterials beläuft sich hierbei auf 42 Prozent.
Ein Kataster für die urbane Mine
Auch die andere Seite haben die Architekten mitbedacht: Die Weiterverwendung des Materials nach dem Einfamilienhaus. Die rund zehn Prozent der neu beschafften Baustoffe sind recyclingfähig. Dabei achtete man darauf, keine Verbundmaterialien zu verwenden, die sich später schwer bis gar nicht mehr voneinander trennen lassen. Ein Bauteil aus einem Material also: So nutzte Cityförster für den Rohbau leimfreies Massivholz. Brettlagen sind mit Buchenholzschrauben verbunden, um sie später einfach trennen und demontieren zu können.
Das Haus hat diverse Preise für Nachhaltigkeit, Innovation und Ökodesign gewonnen – eben weil es aus den zehntausenden Neubauten, die jährlich in Deutschland entstehen, herausragt. Etwas Entscheidendes, was der Prototyp vormacht, fehlt flächendeckend: ein recyclinggerechtes Design, das die Verwendung und Demontage der Komponenten ohne Qualitätsverlust oder eine sortierte Trennung der Materialien nach dem Ende der Lebensdauer ermöglicht. Um in der urbanen Mine in großem Stil zu schürfen, braucht es ein Gebäude-Materialkataster, aus dem hervorgeht, was man genau in welcher Qualität vor sich hat.
Kaserne als Rohstofflager
Die Stadt Heidelberg macht hierbei den ersten Schritt und erfasst ihren Bestand. Die Kommune nutzt einen sogenannten Urban Mining Screener. Das Programm soll mithilfe von Gebäudedaten wie Bauort, -jahr, Gebäudevolumen oder -typ die materielle Zusammensetzung schätzen und auf Knopfdruck ein Ergebnis liefern. Als Erstes wird eine ehemalige Wohnsiedlung für Angehörige der US-Armee untersucht. Das Patrick-Henry-Village ist etwa 100 Hektar groß und könnte Raum für 10.000 Menschen und 5.000 neue Arbeitsplätze bieten. Aktuell stehen auf der Fläche noch 325 Gebäude. Diese sollen entweder abgerissen oder saniert werden – stellen also ein wertvolles Rohstofflager dar. Laut Urban Mining Screener warten im Quartier 465.884 Tonnen Material darauf, weiterverwendet zu werden, etwa die Hälfte davon Beton, ein Fünftel Mauersteine und rund fünf Prozent Metalle.
Bei konsequenter Kreislaufwirtschaft wären solche Bestände künftig – wie bislang neue Produkte – auf dem Baustoffmarkt verfügbar. Ein zentraler und leicht zugänglicher Material- und Bauteilkatalog, in dem verfügbare Produkte katalogisiert und abrufbar sind, enthielte alle erforderlichen Bauteilinformationen. Damit solch ein Katalog gepflegt werden kann, wäre auch der Neu- oder besser der Recycling-Bau gefordert: Bei Errichtung eines Gebäudes müssten idealerweise alle Informationen zu den Produkten in Form einer Gebäudeakte vorgelegt werden.
Digitalisierung ermöglicht Transparenz
Dies gilt ebenso für andere Produkte: In einer Kreislaufwirtschaft braucht es detaillierte Informationen zu allen darin enthaltenen Rohstoffen. Die Möglichkeiten ihrer Wiederverwendung und Rückführung in den Kreislauf müssen erfasst werden und abrufbar sein. „Bis vor kurzem war es kaum möglich, Informationen dieser Art in der benötigten Detailliertheit zu generieren und über den kompletten Lebenszyklus hinweg transparent zu halten“, sagt van de Sandt-Nassehi. „Mit innovativen digitalen Lösungen ist dies jetzt machbar.“
Von den Potenzialen solch einer konsequenten Kreislaufwirtschaft würde die gesamte Wirtschaft profitieren. So wie die fossilen Energiequellen Kohle, Öl und Gas sind auch die geologischen Ressourcen der Erde nicht nur begrenzt, sondern auch ungleich verteilt. Die Akteure des Industriestandorts Deutschland müssen viele dringend benötigte Rohstoffe wie Erze und Metalle importieren. Würden wir auf die bereits vor Ort vorhandenen Sekundärrohstoffe zurückgreifen, die Rohstofflager im eigenen Land besser nutzen, müssten hiesige Unternehmen in deutlich geringerem Maße auf Primärrohstoffe aus dem Ausland zurückgreifen. Das gilt vor allem mit Blick auf die als versorgungskritisch eingestuften Edel- und Sondermetalle, ohne die viele Zukunftstechnologien nicht produziert werden können.
Recycling macht die Energiewende bezahlbar
Für die Herstellung von Photovoltaikmodulen etwa wird reines Silizium benötigt, das knapp und teuer ist. Da im Zuge der Energiewende hierzulande neben der Erzeugung von Wind- auch die der Sonnenenergie deutlich hochgefahren wird, spielt diese Ressource eine erhebliche Rolle. Das Unternehmen LuxChemtech hat Technologien entwickelt, um Silizium und weitere Halbleitermaterialien zu recyceln. Bei der Herstellung von Silizium dient Quarzsand als Ausgangsstoff, er wird unter Zugabe von Kohlenstoff bei etwa 2.000 Grad geschmolzen. „Dieses metallurgische Silizium ist aber für Anwendungen in der Photovoltaik oder Mikroelektronik noch viel zu verunreinigt“, erläutert Firmengründer Wolfram Palitzsch. „Es folgt ein komplexer Vorgang über flüssige Zwischenprodukte, bis schließlich reinstes Silizium entsteht.“
Dabei fallen große Mengen Abfall an. Diesen Ausschuss arbeitet das sächsische Unternehmen wieder auf. Chemisch behandelt und mechanisch zerkleinert ist das Material am Ende der Prozesse so rein wie Neuware. Rund 80 Tonnen Silizium im Monat werden auf diese Weise recycelt und zurück in den Kreislauf geführt. Für diese nachhaltige Innovation wurde LuxChemtech 2022 als Bundessieger im Unternehmenswettbewerb mit dem KfW Award ausgezeichnet.
Wenn hiesige Unternehmen verstärkt Sekundärrohstoffe einsetzen und aufbereiten bringt dies noch weitere wirtschaftliche Vorteile: für das produzierende Gewerbe durch Kosteneinsparungen im Materialbereich, für die Volkswirtschaft durch Erhöhung der inländischen Wertschöpfung. Die Recyclingwirtschaft kann ein Innovationsmotor und Arbeitsmarkt für Deutschland sein. Es ist noch ein langer – und wohl kein gerader – Weg, bis unsere Wirtschaft wirklich rund läuft. Es wird aber Zeit, ihn zu beschreiten, weil alle davon profitieren.
Europa: »Fit für 55«
Die Europäische Union (EU) macht ihr Klimaziel, die Emissionen in der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu senken, zu einer rechtlichen Verpflichtung. Das Gesetzespaket erhielt daher den Titel „Fit für 55“. Eine Einigung auf wesentliche Bestandteile im Dezember 2022 muss nun noch formell im Rat und im Europäischen Parlament bestätigt werden. Weitere Teile werden in diesem Jahr abgeschlossen. Die neuen Rechtsvorschriften sollen die EU bis 2050 klimaneutral machen. Ein wichtiges Instrument, um dies zu erreichen, ist der Emissionshandel, er gibt Treibhausgasen einen Preis. Zukünftig sollen die Emissionsrechte noch stärker gekürzt werden. Ein Teil der Einnahmen aus dem EU-Emissionshandel für Energie, Industrie, Luft- und Schifffahrt fließt in den Innovationsfonds, der Investitionen in klimafreundliche Technologien fördern wird. „Fit für 55“ kann auch die Transformation zu einer Kreislaufwirtschaft beschleunigen.