Wer zu spät kommt

Ist die Hausse an den Aktienmärkten fundamental berechtigt? Falls ja, wäre es höchste Zeit einzusteigen.
Illustration: Dorothea Pluta
Illustration: Dorothea Pluta
Mirko Heinemann Redaktion

Ein Gespenst geht um in Europa. Halt, keine Angst: Es folgt nicht das kommunistische Manifest, sondern der Hinweis auf eine sich allmählich zuspitzende Situation: Während die Zinsen im Euroraum auf niedrigem Niveau verharren, steigt die Inflation langsam aber sicher an. Was erst einmal als rein ökonomisches Problem erscheint, könnte sich schnell auch politisch auswirken – vor allem in Deutschland, dem Land der Sparer. Die niedrigen Zinsen sorgen für Unmut.

Laut Emnid-Umfrage der Postbank hat nur jeder zehnte Deutsche die Niedrigzinsphase zum Anlass genommen, seine Anlagen umzuschichten. Jeder zweite gab an, sein Geld auf seinem Girokonto zu belassen. 40 Prozent der Deutschen haben ihr Geld auf einem Tagesgeldkonto zu Minizinsen angelegt. Aktien und Wertpapiere? Laut einer aktuellen Studie des Deutschen Aktieninstituts (DAI) sind hier neun Millionen Deutsche investiert, das sind 14 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das sei ein Plus von 6,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Erfreulich ist, dass viele Jüngere die Aktie als sinnvolle Alternative zum Sparbuch entdeckt haben. Die Zahl der Aktienbesitzer unter 40 Jahren kletterte um zehn Prozent auf rund 170.000 mehr als ein Jahr zuvor. Auch die Schere zwischen Ost und West schließt sich langsam, so entdeckten im Jahr 2015 über 300.000 Ostdeutsche das Aktiensparen für sich (Westen: 260.000 neue Aktienanleger). Doch im Verhältnis zum Börsenboom um die Jahrtausendwende ist das immer noch wenig: Damals besaßen 20 Prozent Aktien oder aktiennahe Wertpapiere.

Die anderen schauen zu, wie ihr Geld herumdümpelt. Und seit neuestem auch noch immer schneller an Wert verliert. Den Turbo in Sachen Entwertung hat die Inflation gezündet, die im Februar erstmals seit langem wieder über zwei Prozent stieg. Teuerung plus niedrige Zinsen ergeben einen giftigen Cocktail: Die Entwertungskurve zeigt immer steiler nach unten. Für Sparer sind das denkbar ungemütliche Zeiten. Dazu kommt: Sie sind unbeteiligte Zuschauer bei dem Schauspiel, das sich derzeit an den Weltbörsen abspielt. Die Unternehmenswerte steigen auf Rekordstände. Der Dow Jones Index hat zum ersten Mal in der Geschichte die 20.0000 Punkte überschritten. Der Dax folgt vorsichtig, aber beständig. Zugleich schütten viele deutsche Unternehmen in diesem Jahr Rekorddividenden aus. Der Wirtschaft geht es gut, und die Anleger profitieren von den vollen Auftragsbüchern – wenn sie Anteilseigner sind. Unternehmen bieten ihren Aktionären eine Quote von bis zu fünf Prozent. Sparer müssten sich ein Loch in den Bauch ärgern. Aber 91 Prozent erklärten in der Postbank-Umfrage, bei der Geldanlage gehe Sicherheit vor.

Als Gründe für die Risikoaversion führen Ökonomen gerne die Verwerfungen an, die durch den Aktienboom am so genannten Neuen Markt um das Jahr 2000 herum ausgelöst wurden. Damals hatte sich eine regelrechte Hysterie rund um das Hochtechnologiesegment an der Frankfurter Börse entwickelt. Internetfirmen wurden hoch gehandelt, Anlageberater bei Banken und Sparkassen empfahlen ihren Kunden „Medienfonds“, an jeder Straßenecke gründeten sich so genannte Fondsvereine, deren Mitglieder hofften, von den explodierenden Kursen profitieren zu können. Am Ende entpuppte sich der Boom als gewaltige Blase, die in sich zusammenfiel. An den Börsen wurden binnen weniger Monate gewaltige Kapitalmengen vernichtet.

Manche fühlen angesichts dessen, was Beobachter die „Trump-Rallye“ nennen, an diese Zeit erinnert. Es geht immer höher hinaus, und Analysten wie institutionelle Investoren glauben nicht an ein schnelles Ende der Hausse. Smarte Anleger haben den Aufschwung an den Finanzmärkten längst genutzt und sich in verschiedenen Assets engagiert.

Wer sich näher mit der Börse beschäftigt, steigt zwangsläufig tiefer in finanzökonomische Zusammenhänge ein - und trifft derzeit auf eine neue Konstellation. It's the economy, stupid? Das war der Spruch, mit dem Bill Clinton seinerzeit die Präsidentschaftswahlen gewann. Mit der Präsidentschaft von Trump hat sich das Gefüge umgekehrt. Trump gewann, weil er für einen politischen Wechsel stand - und beeinflusst nun die Wirtschaft und die Finanzmärkte. Die  Ökonomie folgt der Maßgabe der Politik.

Während sich die Finanzmärkte in den USA zu neuen Rekorden aufschwingen, sind Unsicherheiten hierzulande hausgemacht. Sie passen in das risiko-averse Psychogramm der Europäer. Sie sehen in der Öffnung von Strukturen nicht die Chance, sondern das Risiko. Auf dieses setzen auch die Populisten. Sie wollen innereuropäische Grenzen schließen, die Migration begrenzen, alte Währungen wieder einführen und die Zinsen erhöhen. Der Rückzug in kleinstaatliche Strukturen ist ein Aufflackern der trügerischen Hoffung, der Globalisierung ein Schnippchen schlagen zu können. Doch selbst der Populist Donald Trump, der dem größten Binnenmarkt der Welt vorsteht, müsste allmählich einsehen, dass solche Versprechen den gegenteiligen Effekt haben werden.  

Wo aber bleiben die Kleinanleger, Häuslebauer, die Sparer? Sie orientieren sich nur sehr langsam um. Die repräsentative Umfrage „Geldanlage 2016/2017“ der Nürnberger GfK Marktforschung im Auftrag des Bundesverbands deutscher Banken verzeichnet: Wenn die Deutschen investieren, neigen sie zu Anlagen in Immobilien und Gold, weniger in Aktien oder Fonds. Eine Umfrage des Verbandes der Privaten Bausparkassen von vergangenem Jahr verzeichnet immerhin eine allmählich abklingende Sparquote: 2015 hatten noch 53 Prozent der Bundesbürger angegeben, ihr Erspartes auf ein Sparkonto zu legen. 2016 waren es noch 48 Prozent.

Sicherheit zuerst – angesichts der politischen Risiken wird diese Denkweise sich nur langsam ändern. „Die Aktienmärkte sind zwischen der Hoffnung auf Trumps angeblich spektakuläre Steuerpläne und seiner Unberechenbarkeit – bis hin zur Angst vor Protektionismus – hin- und hergerissen“, sagte etwa der Chefstratege der Privatbank Merck Finck, Robert Greil, der ARD. Laut Landesbank Baden-Württemberg kommen kaum abschätzbare Auswirkungen der offenen Brexit-Fragen und der anstehenden Wahlen in Europa als Belastungen hinzu.  „Sein sprunghaftes Auftreten untergräbt das Vertrauen der Investoren“, so der Vermögensverwalter Angus Gluskie von White Funds Management.

Bislang sieht es aber anders aus. Die Kurse steigen weiter. Womöglich ist es höchste Zeit einzusteigen. Denn wer zu spät kommt, das sagte schon ein berühmter Mann auf der Schwelle einer großen Umwälzung, den bestraft das Leben.

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