NACHHALTIGKEIT BEGINNT IM KLEINEN

Was ist eigentlich nachhaltig? Eine einfache Frage, deren Antwort extrem komplex werden kann, wenn man einmal tiefer eintaucht. Dennoch kann jeder und jede Einzelne mit aktiven Entscheidungen bereits viel bewirken.


 

Illustration: Rosa Viktoria Ahlers
Illustration: Rosa Viktoria Ahlers
Julia Thiem Redaktion

Heimische Hölzer aus nachhaltiger Forst‑ wirtschaft, ein Korbgeflecht aus recyceltem Kunststoff sowie eine biozidfreie Lasur – auf der autofreien ostfriesischen Insel Spiekeroog können Urlauber diese Saison den Sommer am Strand in „nachhaltigen Strandkörben“ genießen. Sechs dieser unter Umweltaspekten produzierten Varianten sind dieses Jahr im Test. Bestehen sie, sollen mehr ange‑ schafft werden. Und woran man die sechs nachhaltigen Strandkörbe erkennt, ist ja wohl auch klar: Sie haben ein grün‑weißes Polster statt des üblichen blau‑weißen.
 

NACHHALTIGKEIT IST IN


Damit liegt Spiekeroog nicht nur voll im Trend, sondern bedient das wachsende Umweltbewusstsein der Verbraucherinnen und Verbraucher. Nachhaltigkeit ist zu einem Qualitätskriterium geworden, dass sich Unternehmen genau wie Bund und Länder immer öfter auf die Fahne schreiben. So will beispielsweise die Bundesregierung schon im kommenden Jahr die Hälfte aller benötigten Textilien „nachhaltig beschaffen“. Das heißt, Uniformen, Arbeitskleidung oder die Wäsche in Kliniken soll sowohl ökologisch als auch mit Blick auf die Rechte der Menschen, die diese Textilien her‑ stellen, nachhaltig sein werden. Und Reifenhersteller Continental verspricht, dass spätestens 2050 sämtliche Reifen zu 100 Prozent aus nachhaltigen Materialien wie Naturkautschuk bestehen und die Lieferketten zu 100 Prozent CO2‑neutral sein werden. Dafür haben die Hannoveraner gerade ein gemeinsam mit dem Bundesentwicklungsministerium finanziertes Projekt auf Borneo um drei Jahre verlängert, das Kleinbauern schult, Naturkautschuk nach klar definierten Kriterien anzubauen. Der Vorteil für die dortige Bevölkerung: 27 Prozent mehr Gehalt, während wertvolle Wald‑ und Torfgebiete auf der Insel erhalten bleiben. 

Beispiele solcher Nachhaltigkeitsinitiativen gibt es zuhauf und auf den ersten Blick klingen sie so, als könnte die Welt tatsächlich zu einem besseren Ort werden. Allerdings gilt es, ganz genau hinzuschauen – und zwar aus einem einfachen Grund: Es gibt keine einheitliche Definition für Nachhaltigkeit, was zu einem ethischen Dilemma werden kann. Das spüren gerade einige große Konzerne, die sich mit Klagen wegen „Greenwashing“ konfrontiert sehen. Eine solche Klage hat beispielsweise gerade Sporthersteller Adidas vor dem Landgericht Nürnberg‑Fürth verlo‑ ren. Geklagt hatte die deutsche Umwelthilfe mit dem Argument, dass der Konzern seine Klimaneutralität bis 2050 nicht hinreichend erklären könne. Wer ein solches Versprechen für Werbezwecke nutzt, muss auch den Weg dahin erklären, stellte der Richter nun klar. Die strittige Werbeaussage erwecke den Eindruck, dass Adidas die Klimaneutralität allein durch eigene Emissionseinsparungen erreichen wolle.

Illustration: Rosa Viktoria Ahlers
Illustration: Rosa Viktoria Ahlers

VORSICHT GREENWASHING


Und auch die größte deutsche Fondsgesellschaft, die Deutsche‑Bank‑Tochter DWS, sieht sich mit Greenwashing‑Vorwürfen konfrontiert. Recherchen von Süddeutscher Zeitung, WDR und NDR hatten aufgedeckt, dass ein gemeinsam mit dem WWF ins Leben gerufener und als nachhaltig deklarierter Fonds zum Schutz der Meere auch in Aktien von Coca‑Cola oder dem Kreuzfahrtanbieter Royal Caribbean Cruises investiert hatte. 

Greenwashing heißt also, dass Unternehmen sich grüner machen als sie tatsächlich sind. In Wahrheit ist die Antwort jedoch komplexer. Denn gerade mit Blick auf Investorengelder – also im Fall der DWS – argumentieren Experten durchaus, dass gerade Unternehmen der Weg zum Kapitalmarkt nicht versperrt werden darf, die sich aktuell in einer transformativen Phase befinden, um dortige Nach‑ haltigkeitsbemühungen nicht im Keim zu ersticken. Und um Adidas argumentativ zur Seite zu stehen, ist Klimaneutralität für die meisten produzierenden Unternehmen nur zu erreichen, indem sie etwa über den Emissionshandel oder Aufforstungsprojekte ihren nach wie vor vorhandenen CO2‑Ausstoß „ausgleichen“.
 

EIN BEGRIFF IM WANDEL


Das vielleicht aber größte Dilemma der fehlenden Definition von Nachhaltigkeit ist, dass wir heute an vielen Stellen noch gar nicht sagen können, was wirklich nachhaltig ist. Beispiel Elektromobilität: Sicherlich sind E‑Autos auf den ersten Blick im Vergleich zum klassischen Verbrenner nachhaltiger. Doch auch für die Herstellung der Batterien werden nicht‑nachwachsen‑ den Rohstoffe benötigt. Lithium und Kobalt sind hier die beiden prominenten Beispiele, deren Abbau gerade im globalen Süden auch unter den dort herrschenden Arbeitsbedingungen das Nachhaltigkeitslabel nicht verdienen. Ein anderes Beispiel ist Biogas, für welches in vielen Regionen großflächig Monokulturen wie Mais angebaut sowie mit landwirtschaftlichen, dieselbetrie‑ benen Maschinen geerntet werden. Damit wird zum einen die ökologische Nachhaltigkeit geschmälert, zum anderen entsteht eine direkte Konkurrenz auf den Flächen mit Futter‑ und Lebensmitteln, was unter dem sozialen Aspekt der Nachhaltigkeit zumindest grenzwertig zu betrachten ist. 

Kurz gesagt: Die Nachhaltigkeitsdiskussion ist komplex und wir haben das dritte Nachhaltigkeits‑ kriterium neben ökologisch und sozial, nämlich die verantwortungsvolle Führung (im Englischen ESG für environmental, social and governance), noch nicht einmal berücksichtigt. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die breite Wahrnehmung dessen, was nachhaltig ist, auch durchaus verändert. Bei‑ spiel: Rüstung. War es vor einigen Jahren noch ein No‑Go, dass etwa Versicherungen Kundengelder auch nur in die Aktien eines Schraubenherstellers investieren, der Rüstungsunternehmen beliefert, hat sich die allgemeine Wahrnehmung im Verlauf der letzten Krisenjahre gewandelt. Rüstung ist wieder salonfähig und könnte mit Blick auf das wachsende Sicherheitsbedürfnis durchaus in naher Zukunft als nachhaltig gelten.
 

VIELE KLEINE SCHRITTE


Diese Komplexität darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Konzept der Nachhaltig‑ keit in den vergangenen Jahren auch einiges bewegt hat – und sei es nur im Bewusstsein der Menschen. Und das ist wichtig. Denn während der Klimawandel immer bedrohlichere Auswüchse annimmt und die Artenvielfalt auf dem Planeten schwindet, ist es wichtiger denn je, ökologische und soziale Aspekte in den Vordergrund zu stellen. Ja, Nachhaltigkeit hat ihre Tücken, viel bewegen kann man aber ohnehin im Kleinen, was – wenn genügend Menschen mitma‑ chen – wiederum zu etwas Großem werden kann. So hat die Cornell University in New York gerade die Auswirkungen eines fleischfreien Tages pro Monat in zwölf Cafeterias auf einem großen Universitätscam‑ pus untersucht. Dieser eine Tag „Verzicht“ reduziert die lebensmittelbedingten Treibhausgasemissionen bereits um 52,9 Prozent. Und auch ein Urlaub in der Heimat kann den eigenen CO2‑Abdruck verringern – vor allem, wenn der Strandkorb dann auch noch nachhaltig ist.
 

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