Neue Dynamik am Kapitalmarkt

2022 war das Jahr der Zinswende – und die hat neuen Schwung in viele Bereiche des Kapitalmarktes gebracht. Für Anlegerinnen und Anleger heißt das: Zwischen absolutem Konservatismus und hoch spekulativen Assets gibt es wieder mehr attraktive Alternativen. Ein Streifzug

Illustration: Chiara Lanzieri
Illustration: Chiara Lanzieri
Interview: Julia Thiem Redaktion

Das Anlageverhalten der Deutschen ist manchmal wirklich paradox. Zum einen wird den Menschen hierzulande eine sehr hohe Risikoaversion nachgesagt. Jedes Jahr werden neue Studien veröffentlicht, die eine mangelnde Aktienkultur im Land kritisieren – im letzten Jahr beispielsweise die Global Investor Portfolio Study von Morningstar. Die Ratingagentur verglich 14 Länder aus den Regionen Asien-Pazifik, Europa und Nordamerika. „Anleger in Deutschland sind in der Regel risikoavers und bevorzugen risikoarme Instrumente wie Festgeld- und Sparkonten sowie Versicherungsprodukte“, sagte Natalia Wolfstetter, Director of Manager Research bei Morningstar, über die Studienergebnisse. Weniger als 20 Prozent der Anleger:innen, so die Studie besäßen hierzulande Investmentfonds oder Aktien. Andererseits haben die Deutschen offensichtlich aber auch Angst, etwas zu verpassen. Denn immerhin halten laut Statista zwölf Prozent der 18- bis 64-jährigen Menschen in Deutschland Kryptowährungen. Zugegeben, deutlich weniger als beim Spitzenreiter Nigeria, dort sind es 47 Prozent, aber auch nicht so weit von den Spaniern (15 Prozent) oder US-Amerikanern (16 Prozent) entfernt, die ja als deutlich optimistischer und risikofreudiger gelten.

Krypto-Hype zieht Kriminelle an

Und so führt diese „Fear Of Missing Out“, wie sie im Investment-Sprech heißt, dazu, dass immer mehr Cyberkriminelle den Hype um Kryptowährungen für sich nutzen. Die Kriminalämter registrieren beispielsweise eine zunehmende Zahl an Fake-Anrufen, über die Betrüger versuchen, am Telefon ein Kryptodepot eröffnen zu lassen, um an die Daten der Opfer zu kommen. Einen ziemlich kuriosen Betrugsfall hat zudem der Cybersecurity-Spezialist Sophos gerade offengelegt. Demnach sprechen Kriminelle ihre Opfer jetzt sogar über Dating-Portale an. Doch anstatt zu einem ersten Treffen werden die zu Investments in Kryptowährungen überredet. Eines der Opfer hat sich an Sophos gewandt. Die IT-Sicherheitsspezialisten haben den Fall untersucht und insgesamt 14 Domains gefunden, die mit dem Betrug verbunden waren. Innerhalb von nur drei Monaten sei so mehr als eine Million US-Dollar erbeutet worden. Die Kriminellen machen sich die immer noch weitestgehend unregulierte Welt von Handelsanwendungen für dezentralisierte Finanz-Kryptowährungen zunutze, heißt es von Sophos. Sie erstellen sogenannte Liquiditätspools für verschiedene Arten von Kryptowährungen, über die Nutzer Geschäfte von einer Währung zur anderen machen können. Der Return on Investment, der lockt: Teilnehmer erhalten einen Prozentsatz von jeder Gebühr, die jeweils für den Abschluss eines Geschäfts gezahlt wird. Liquiditätspools sind jetzt keine neue Erfindung der Cyberkriminellen – nur in ihrem Fall eben nicht echt. Das von Sophos skizzierte Opfer „Frank“ – nur der Name sei geändert worden – hat innerhalb einer Woche 22.000 US-Dollar verloren. Sean Gallagher, Principal Threat Researcher bei Sophos, liefert eine Erklärung: „Nur sehr wenige der Opfer verstehen, wie legale Kryptowährungsgeschäfte funktionieren, daher haben die Betrüger ein leichtes Spiel. Es gibt mittlerweile sogar Bausätze für diese Art von Betrug. Während Sophos im letzten Jahr ein paar Dutzend dieser gefälschten Liquiditätspool-Seiten verfolgte, sehen wir nun mehr als 500.“

Turbulente Finanzmärkte als Grund?

Was also treibt gerade Privatanleger dazu, Investitionen zu tätigen, die sie nicht in Gänze verstehen? Im Fall der Kryptowährungen könnten es die oftmals schillernden Schilderungen fantastischer Gewinne sein. Die machen es für viele Anleger natürlich verlockend, das eigenen Glück zu versuchen. Und wenn der Nachbar investiert, kann es ja auch nicht so schwer sein. Tatsächlich machen die meisten Anleger:innen allerdings Verluste, wie eine Studie der Bank für Internationale Zusammenarbeit, BIZ, zeigt. Demnach haben alleine mit dem Bitcoin weltweit drei Viertel der Privatanleger zwischen 2015 und 2022 Geld verloren – trotz schillernder Aussichten. Sind sie überhaupt schillernd?Um das bewerten zu können, muss zunächst einmal klar sein, was mit „Aussichten“ oder auch mit „Renditeerwartung“ gemeint ist. Denn ob das Anlageziel langfristiger Kapitalerhalt oder eben kurzfristige Spekulation ist, macht einen großen Unterschied, in welchem Bereich des Finanzmarktes ich mich als Anleger umschaue. Sicherlich haben die außergewöhnlichen Bedingungen der letzten Dekade am Kapitalmarkt dazu beigetragen, dass sich einige grundlegende Investmentregeln durchaus verändert haben - volatile Finanzmärkte als Anlass zu nehmen, sich für Anlageformen zu entscheiden, deren Chancen-Risiko-Profil man nicht komplett abschätzen kann, ist wohl aber auch nicht der richtige Weg.

Aussichten Kryptowährungen

Gerade Kryptowährungen sind ein gutes Beispiel. Denn während die Kursschwankungen bei Aktien von Anlegern gerne als Grund genannt werden, sich hier nicht zu engagieren, scheint das in puncto Krypto nicht weiter zu stören. Und die Schwankungen sind deutlich: Zu Beginn dieses Jahres lag der Bitcoin-Kurs unter 18.000 US-Dollar, um sich Mitte des Jahres bei 30.000 US-Dollar einzupendeln. Wann man in Krypto ein- und aussteigt, hat also erheblichen Einfluss darauf, ob man zu den Gewinnern oder Verlierern zählt. Und dass ein derart perfektes Markttiming mehr ein frommer Wunsch als Realität ist, bestätigen Anlageexperten immer wieder.  Sollte man deshalb lieber die Finger von Krypto lassen? Von unseriösen und verdächtigen Angeboten – siehe oben – unbedingt. Ganz grundsätzlich tut sich jedoch einiges auf dem Markt für Digitalwährungen – allen voran aufgrund des wachsenden Interesses großer institutioneller Investoren. So wartet der US-Vermögensverwalter Blackrock gerade auf die Zulassung für seinen Bitcoin-ETF durch die US-Aufsichtsbehörde SEC. Diese wurde im Juni dieses Jahres beantragt, eine Entscheidung gerade aber noch einmal verschoben. Die Behörde hat sich eine weitere Frist von 45 Tage eingeräumt. Kommt die Zulassung für den Blackrock-Bitcoin-ETF, könnte das ganz neue Investitionsmöglichkeiten für Privatanleger eröffnen – vor allem, weil Blackrock mit dem Antrag auf Zulassung in bester Gesellschaft ist.

Wie viel Risiko muss sein?

Was die Anträge für Krypto-ETFs zeigen: Die Branche versucht, den relativ neuen Markt für digitale Währungen in etablierte, geregelte Bahnen zu lenken und damit für eine breite Masse investierbar zu machen. Dabei müssen sich Anleger im aktuellen Marktumfeld auch die Frage stellen, wie viel Risiko gerade überhaupt nötig ist. Denn was den Immobilienmarkt unter Druck setzt, macht konservative Anlageklassen wie Tagesgeld oder auch Anleihen wieder attraktiver: der Zinsanstieg. Die belgische Suresse Direkt Bank, eine Tochter von Santander, zahlt aktuell über 4 Prozent aufs Tagesgeld auf Einlagen bis zu einer Million Euro bei sechsmonatiger Zinsgarantie – und ist damit nicht allein.

Illustration: Chiara Lanzieri
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Auch Neo-Broker wie Trade Republic bieten ab dem 1. Oktober für Guthaben auf dem Verrechnungskonto bis 50.000 Euro vier Prozent Zinsen an. Außerdem spannend in diesem Zusammenhang: Bei Trade Republic sind nun auch über 500 liquide Staats- und  Unternehmensanleihen ab einem Euro handelbar. Die passende Argumentation zu diesem Schritt liefert Christian Hecker, Mitgründer des Brokers: „Besonders im aktuellen Umfeld sind Anleihen eine wichtige Anlageklasse, um langfristig von hohen Zinsen zu profitieren. Heute öffnen wir diese Anlageklasse als erster Broker in Europa für Privatanleger. Bis heute waren Anleger auf teure Banken oder Berater angewiesen, um Zugang zum Anleihemarkt zu erlangen. Mit dem neuen Angebot machen wir einen weiteren Schritt, um immer mehr Menschen Zugang zum Kapitalmarkt zu verschaffen.”

Aktien – auch kurzfristig wieder attraktiv?

Gerade für die Portfoliobeimischung und, um Risikoinvestments abzusichern, wurden auskömmliche Zinsen am Kapitalmarkt lange schmerzlich vermisst. Die Zinswende dürfte in Zukunft also wieder mehr Anleger in Richtung festverzinsliche Anlagen locken. Das sollte die Attraktivität von Aktieninvestments allerdings nicht schmälern. Im Gegenteil: Sie sind für den Vermögensaufbau und mit einem langfristigen Anlagehorizont immer eine gute Wahl – das belegt das Renditedreieck des Deutschen Aktieninstituts seit Jahren. Dennoch haben die starken Schwankungen Anleger auch hier skeptisch und damit vorsichtiger werden lassen. Ein Beispiel sind Schwellenländer-Aktien, um die Anleger lange einen großen Bogen gemacht haben. Schwache Renditen, ein volatiles politisches Umfeld und instabile Währungen waren einige der Gründe. Laut der Investmentexperten des Vermögensverwalters M&G könnte sich aber auch hier nun eine Wende ankündigen. „Der Blick auf praktisch jede Kennzahl zeigt, dass Emerging-Market-Aktien im Vergleich zu globalen und US-Aktien relativ günstig sind. Unserer Meinung nach überschattet die negative Stimmung der Investoren einige der positiven Trends, die wir heute in den Schwellenländern beobachten“, heißt es in einem aktuellen Investmentbericht. Und auch ganz generell sehen Experten wieder mehr Gründe, die für ein Aktieninvestment sprechen – trotz hoher Inflation. So gibt die Helaba beispielsweise wieder grünes Licht für Aktien. „Inflation wirkt sich in der Summe meist positiv auf die Unternehmensergebnisse aus. Die gestiegenen Gewinnmargen zeigen, dass die Unternehmen auf Indexebene betrachtet die höheren Kosten mehr als ausgleichen konnten. Trotz des wirtschaftlichen Abschwungs haben sich daher die Unternehmensgewinne bislang überraschend positiv entwickelt. Damit hat sich die Bewertungssituation bei den international führenden Aktienindizes deutlich entspannt. Euro-Titel sind sogar besonders günstig zu haben“, heißt es auch hier in einem aktuellen Report.

Investmenttrend ESG etabliert sich?

Bleibt noch ein Blick auf die Prognosen zu nachhaltigen Investments, also auf das sogenannte ESG-Segment des Kapitalmarktes, das sowohl Aktien als auch Anleihen umfasst. Vor allem institutionelle Anleger würden bei ihren Anlageentscheidungen verstärkt auf Nachhaltigkeitskriterien achten, heißt es in der Nachhaltigkeitsstudie 2023 von Union Investments – mit 91 Prozent der höchste Wert seit Start der jährlichen Befragung 2010 und acht Prozentpunkte mehr als noch im Vorjahr. Drei Viertel der Investoren (74 Prozent) sind zudem mit den nachhaltigen Kapitalanlagen in ihrem Verantwortungsbereich zufrieden (Vorjahr: 67 Prozent). Mehr noch, Großanleger glauben offensichtlich an eine gewisse Resilienz nachhaltiger Anlagen gegenüber geopolitischen Krisen. 76 Prozent wollen den Anteil nachhaltiger Kapitalanlagen deshalb ausbauen. Das ist vor allem vor dem Hintergrund der Wertentwicklung nachhaltiger Investments interessant. Hier belegen zahlreiche Studien, dass Investoren, die ihrer Kapitalanlage ESG-Kriterien zugrunde legen, zumindest nicht schlechter gestellt sind als jene Investoren, die traditionell investieren. Langfristig aber könnten sich ESG-Investments besser entwickeln, so die Theorie, die nun auch von den Umfrageergebnissen gestützt wird, da Unternehmen, die nachhaltig wirtschaften oder sogar Vorreiter auf einem Gebiet sind, auch für die Zukunft besser aufgestellt sind. Und weil institutionelle Investoren oftmals als Pioniere auch Privatanlegern den Zugang zu einer Investmentklasse ebnen, könnte sich ein Blick auf das ESG-Segment langfristig lohnen. An Möglichkeiten mangelt es zumindest nicht.

Positive Aussichten, ausgewogenere Investments?

In Summe lässt sich festhalten, dass Anleger mit der Zinswende wieder mehr Möglichkeiten haben, ihr Erspartes breit zu streuen und damit auskömmliche Renditen zu erwirtschaften. Vor allem präsentieren sich mit festverzinslichen Wertpapieren auch wieder Alternativen zu den eher spekulativen und nicht immer ganz transparenten Anlageformen, zu denen Kryptowährungen definitiv (noch) gehören. In den Umfrageergebnissen des Verbands der Privaten Bausparkassen sind letztere bisher nicht genannt – wen wundert’s. Dass das Girokonto im Frühjahr 2023 die Spitzenposition unter den genutzten „Geldanlagemöglichkeiten“ einnimmt (38 Prozent), ist hingegen fast schon ein Hohn – auch, weil auf Platz 2 Sparbuch und Spareinlage (33 Prozent) folgen. Denn in beiden Fällen wird der Begriff „Geldanlage“ ordentlich gedehnt. Einen Lichtblick gibt es bei den Ergebnissen allerdings auch. 2015 gaben nämlich noch 50 Prozent an, das Sparbuch als Form der Geldanlage zu nutzen. Hier zeigt sich dann offensichtlich doch ein Umdenken, was in Puncto Eigenverantwortung und privater Altersvorsorge dringend nötig ist. Sind die insgesamt wieder positiveren Aussichten also Indiz dafür, dass die Deutschen ihre Risikoaversion langsam, aber sicher ablegen? Wünschenswert wäre in jedem Fall ein höherer Aktienanteil in den Portfolios. Das sieht auch die Bundesregierung so und will mit der Einführung der Aktienrente als Baustein der gesetzlichen Rente ebenfalls etwas für die Aktienkultur im Land tun. 

Das Rentensystem revolutionieren wird die Aktienrente aber wohl nicht. Bei 2,5 Prozent des Einkommens, das Erwerbstätige einzahlen, wird der Anteil am Ende bei etwa 5,5 Prozent aller Rentenzahlungen liegen. Auch deshalb ist es essenziell, sich mit dem Kapitalmarkt auseinanderzusetzen und einen Teil der Altersvorsorge selbst in die Hand zu nehmen. Idealerweise wird dieser Teil nicht ganz so konservativ angelegt, wie die vielen Studien und Statistiken den Deutschen nachsagen. Dem Online-Flirt sollten man in Puncto Kapitalanlage aber eben auch nicht vertrauen. Die Wahrheit liegt wie eigentlich immer irgendwo dazwischen und darf sich bei dem aktuellen Zinsniveau vielleicht wieder in Richtung 60-40-Regel einpendeln – 60 Prozent Aktien, 40 Prozent Anleihen –, nur dass heute als zusätzliche Beimischung eben noch viele anderen Optionen zur Verfügung stehen. 

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