»Future Finance«

Die Digitalisierung erfasst die Finanzwirtschaft. Niedrigzinsen, Regulierungsanforderungen, gestiegene Serviceerwartungen und disruptive Wettbewerbseinflüsse setzen die Branche unter Druck. Welche Entwicklungen sind zu erwarten?
Illustration: Wyn Tiedmers
Illustration: Wyn Tiedmers
Interview: Klaus Lüber Redaktion

Herr Herberger, Banken schließen ihre Filialen, Kunden können sich von KI-Systemen beraten lassen, Versicherungen nutzen die Blockchain-Technologie für automatisierte Verträge – erfindet sich die Finanzbranche durch die Digitalisierung gerade neu?
Das würde ich so pauschal nicht sagen. Die Behauptung, wir würden durch die Digitalisierung eine großflächige Disruption der Finanzwirtschaft erleben, ist zum Teil auch einem gewissen medialen Hype geschuldet. Damit meine ich nicht, dass es unbegründet wäre, darüber zu berichten. Es ist nur so, dass das Thema medial überpräsent war und ist. Übrigens nicht nur was Publikumsmedien angeht. Auch in Fachzeitschriften gibt es die Tendenz, klassische Themen wie die Frage nach der Effizienz von Kapitalmärkten anzureichern mit Buzzwords wie Plattformstrategien, Crowdfunding oder Robo Advisory.
 

Wenn die Rede von der großflächigen Transformation also ein Hype ist, was beobachten wir stattdessen?
Etwas nüchterner betrachtet gibt es einfach gewisse Prozessschritte in der Finanzwirtschaft, die von der neu wahrgenommenen Digitalisierung betroffen sind. Das gilt aber keinesfalls für die Branche in ihrer Gänze. Viele Bereiche haben sich nicht grundsätzlich verändert, sondern stehen unter dem Einfluss von digitalen Entwicklungen, die bereits seit 20 Jahren zu beobachten sind bzw. dort eingesetzt haben.
 

Welche Prozesse meinen Sie?
Ich spreche insbesondere von der Digitalisierung im Bereich des Back Offices, also dem Bereich, den der Endkunde normalerweise überhaupt nicht wahrnimmt. Schon wenn Sie früher mit Ihrem analogen Sparbuch in die Bankfiliale gingen und dort eine Buchung vornahmen, fand dieser Buchungsprozess digital statt. Digitalisierung dort bedeutet Effizienzsteigerung, nicht mehr und nicht weniger. Eine neuere Variante dieses Trends ist die sogenannte Digitale Transformation, bei der es darum geht, menschliche Arbeit nach und nach zu automatisieren und damit immer mehr Tätigkeiten von Algorithmen übernehmen zu lassen. Da kommt dann zum Beispiel der schon erwähnte Robo Advisor ins Spiel, der den menschlichen Berater im Finanzdienstleistungssektor ersetzen soll.
 

Was leisten solche Robo Advisors?
Wir haben es hier mit verschiedenen Integrationsstufen von Robo Advisory zu tun, ausgehend von der Frage, wie viel Investitionsentscheidung man als Mensch bereit ist, an eine Maschine abzugeben. Auf der ersten Stufe kann eine KI Wertpapiere in einem Depot überwachen und mich über auffällige Kursbewegungen informieren oder Vorschläge unterbreiten, welche Aktien am besten in mein Chance-Risiko-Profil passen würden.
 

Und in der nächsten Integrationsstufe?
Da kann sich diese Beraterfunktion dahingehend steigern, dass der Robo Advisor Ihnen konkrete Investitionsentscheidungen vorstellt und,  abhängig von bisherigen Depotpositionen, Korrelationen errechnet sowie versucht die Portfoliodiversifikation zu optimieren, wobei ich als Mensch immer noch final die Anlageentscheidung treffe. Auf einer weiteren Stufe entscheidet das System dann selbst. Im Rahmen einer Explorationsphase zu Beginn der möglichen Geschäftsbeziehung zwischen Kunden und Robo Advisor fragt dieser Anlageziele, Anlagehorizonte und Risikobereitschaft ab: Möchte ich spekulieren oder langfristig, zum Beispiel in meine Altersvorsorge, investieren? Je nachdem wie die Märkte sich entwickeln und welche Anlagestrategie man verfolgt, passt die KI dann selbstständig das Portfolio an.
 

Wie stark stehen Banken unter Druck, Tools wie Robo Advisors anzubieten?
Zunächst muss man erkennen, dass einige Dienstleistungen, die wir als Kerndienstleistungen von Banken wahrnehmen, nicht besonders margenstark sind. Im Grunde handelt es sich schon seit einiger Zeit um Dienstleistungen, die auf Basis einer Mischkalkulation von anderen, noch margenstärkeren, Bankdienstleistungen quersubventioniert wurden. Man sieht das an der Entwicklung der Girokonten. Trotz der fast vollständig digitalisierten und standardisierten Verwaltung von Girokonten verursachen diese der Bank natürlich immer noch Kosten, wenn auch geringe. Betrachtet man nun die schon länger andauernde Niedrigzinsphase, überrascht es dann nicht, dass das Angebot an kostenlosen Girokonten bei Banken im Privatkundengeschäft in der jüngeren Vergangenheit deutlich zurückgegangen ist. Inzwischen können die Banken eben solche kostenfreien Bankdienstleistungen, zumindest in großem Stil, nicht mehr aufrechterhalten, da aus anderen Bereichen, wie zum Beispiel dem Kreditgeschäft, Gewinne fehlen.
 

Beratungsdienstleistungen sind aber doch nach wie vor margenstark.
Richtig. Aber genau hier bekommen die Banken Konkurrenz von neuen Playern. Man kann beobachten, dass viele Fintech-Unternehmen, aber auch Vergleichsplattformen im Internet genau den Beratungssektor als lohnendes Geschäftsfeld identifiziert haben. Das hat auch damit zu tun, dass die klassische Beratungsleistung nach wie vor die Schwäche hat, relativ intransparent und damit eher kundenunfreundlich zu sein. Zwar wird der Kunde nach neuen regulatorischen Vorgaben inzwischen mit mehr Informationen versorgt, was aber natürlich noch lange nicht heißt, dass er sie auch richtig interpretieren kann.


Welche Kunden will man hier ansprechen?
Vor allem Kunden, die Finanzprodukte mit einem hohen Standardisierungsgrad nachfragen, um beispielsweise ihre Altersvorsorge zu bewerkstelligen. Diese Zielgruppe benötigt vorrangig keine komplexen und beratungsintensiven Finanzprodukte wie zum Beispiel Private-Equity, Venture-Capital-Beteiligungen oder ähnliches, sondern vielmehr standardisierte Vermögenspositionen wie zum Beispiel Bluechip-Aktien oder Anteile börsengehandelter Indexfonds. Und genau dies können Robo Advisors günstiger anbieten.
 

Welche neuen Optionen bietet das Thema Open Banking für die Branche?
Das ist sicher eine Chance für viele Unternehmen. Der Grundgedanke ist ja überaus sinnvoll. Es soll verhindert werden, dass jede Bank ihre eigene, geschlossene App entwickelt. Also öffnet man die hauseigene Banksoftware über eine Schnittstelle für Drittanbieter. So kann ein Kunde, der an Mobile-Payment-Lösungen teilnehmen will, am Ende selbst entscheiden, welche App er für die in Anspruch genommenen Bankdienstleistungen verwendet.
 

Lassen Sie uns über einen weiteren wichtigen Player sprechen: die Versicherungen. Auch hier sind digitale Innovationen zu beobachten, etwa Policen, die automatisch Schadensmeldungen vornehmen. Was verbirgt sich dahinter?
Man spricht hier von sogenannten Smart Contracts. Die technologische Innovation – und ich würde sagen, hier handelt es sich vermutlich wirklich um eine echte disruptive Innovation – ist die Blockchain. Bekannt wurde die Technologie durch die Kryptowährung Bitcoin, inzwischen weiß man, dass das zugrundeliegende Prinzip eines fälschungssicheren digitalen Kassenbuchs wesentlich breiter einsetzbar ist. Im Falle der Smart Contracts ermöglicht die Blockchain die automatische Auslösung von Vertragsbestandteilen, ohne dass am Freigabeprozess noch ein Mensch beteiligt wäre.
 

Haben Sie ein Beispiel für uns?
Wenn Sie eine Flugreiseversicherung als Smart Contract implementieren, registriert der Contract, ob ein Ausfall oder eine Verspätung vorliegt, meldet den Schadensfall automatisch an die Versicherung und löst damit gleichzeitig den Versicherungsfall aus und zahlt den vertraglich vereinbarten Schadensersatz automatisch aus. Allerdings gibt es hierbei leider ein ganz grundsätzliches Problem.
 

Was meinen Sie?
Sie haben bei fast allen Verträgen mit unklaren Situationen zu tun, die eben nicht so einfach von Algorithmen abgebildet werden können. Es handelt sich im ökonomischen Kontext um das Phänomen unvollständiger Verträge. Um beim Beispiel zu bleiben: Im Augenblick kann eine Software unmöglich alleine entscheiden, ob es sich bei einer Flugverspätung um höhere Gewalt im rechtlichen Sinne oder um ein absehbares Ereignis handelt. Es geht dabei nicht um Risiko, dafür könnte man noch einen Erwartungswert berechnen, sondern schlicht um Unsicherheit. War ein Streik, der zur Verspätung oder zur Annullierung meines Fluges geführt hat, vorhersehbar? Wie lang vorher wurde dieser seitens der Streikenden angekündigt? Wie lang wurden vorher die konkreten bestreikten Standorte und Strecken seitens der Streikenden kommuniziert? Genau hier sehe ich ein Problem, Smart Contracts in der Breite zu implementieren, weil man eben nicht jede zukünftige Umweltsituation in einem Vertrag, auch nicht in einem Smart Contract, abbilden kann.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung von Mobile-Payment-Lösungen? Hier scheint sich ja durch den Markteintritt von Google und Apple Pay eine interessante Dynamik zu entfalten.
Das sehe ich auch so. Nüchtern betrachtet muss man sagen, dass wir uns in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Märkten weltweit, zumindest dem angloamerikanischen, nordeuropäischen oder asiatischen Wirtschaftsraum, im Bereich Mobile Payment noch im Anfangsstadium der Implementierung dieser Technologie im täglichen Leben befinden. Ich glaube allerdings, dass große Player wie Apple und Google mittelfristig und vor allem langfristig hier wichtige Impulse für Deutschland geben werden. Welche Dynamik die Verknüpfung eines Markennamens mit einer Technologie entfalten kann, haben wir ja bereits beim iPhone gesehen. Das Smartphone einschließlich Touchscreen wurde nicht von Apple, sondern von IBM erstmalig vorgestellt, nur hatte sich damals noch kaum jemand dafür interessiert. Erst als Apple das Design sowie die intuitive Bedienung gemeinsam mit seinem Markennamen verknüpfte, wurde die Technologie zum Erfolg.


Sie haben es schon angedeutet, der deutsche Markt gilt als eher schwierig für Mobile-Payment-Lösungen.
Sicher, die Deutschen und ihre Liebe zum Bargeld machen es sicher nicht leichter. Andererseits haben sich im regulatorischen Sinne die Bedingungen deutlich verbessert, vor allem aufgrund der Deckelung der Gebühren beim Einsatz von Giro- und Kreditkarten. Es ist nicht mehr so, dass ein Händler unverhältnismäßig viel Gebühren bezahlen muss, wenn er Kartenzahlung akzeptiert. Im Gegenteil ist dies inzwischen sogar häufig günstiger, wenn man die Opportunitätskosten der Bargeldhaltung mit einberechnet.
 

Welche Trends sind für Sie aktuell am spannendsten?
Sehr interessant finde ich das Thema Proptech, also neue digitale Möglichkeiten der Immobilienwirtschaft, wo ich auch Schnittmengen mit den Geschäftsmodellen von Fintechs sehe – etwa Crowdfunding. Ganz grundsätzlich gesprochen wird es sicher interessant sein, zu beobachten, wie uns die technologische Entwicklung dazu befähigt, immer mehr bislang getrennte Bereiche des täglichen Lebens zusammenzuführen. Ich würde mich nicht wundern, wenn wir in Zukunft Apps verwenden, die Bankdienstleistungen, Online-Einkäufe und vieles mehr gleichzeitig managen können. Diese Entwicklung können wir ja heute schon in Ansätzen beobachten, etwa bei den Apps großer Handelsketten, die immer mehr Services, wie etwa das Payback-Konto des Nutzers, in einer Anwendung integrieren.
 

Dr. Tim Alexander Herberger
ist Universitätsdozent und Leiter des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Entrepreneurship, Finanzwirtschaft und Digitalisierung, an der Andrássy Universität Budapest.

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