Energiewende im Stresstest

Deutschland baut Rekorde bei Erneuerbaren, doch Netze, Speicher und Vorgaben bleiben zurück. Warum der Umbau nur funktioniert, wenn Energie und Politik endlich im gleichen Takt arbeiten.

Illustrationen: Nadine Schmidt
Illustrationen: Nadine Schmidt
Jost Burger Redaktion

Deutschland steckt mitten in der größten Systemumstellung seit der Wiedervereinigung. Die Energiewende soll Versorgungssicherheit, Klimaschutz und industrielle Zukunft sichern, während die Mobilitätswende eine Schlüsselbranche neu ausrichten soll. Doch im Alltag von Unternehmen, Stadtwerken und Haushalten zeigt sich eine komplexere Realität. Entscheidungen werden verschoben, Kosten steigen, Programme stocken. Energie und Verkehr werden politisch weiterhin getrennt organisiert, obwohl sie längst ein gemeinsames technisches System bilden. Genau darin liegt eine der größten Schwächen des bisherigen Ansatzes. Zugleich wächst der Druck, strukturelle Blockaden schneller zu lösen, denn viele lokale Akteure berichten, dass notwendige Genehmigungen oder Abstimmungen inzwischen deutlich länger dauern als früher.

2024 wurde so viel neue Erneuerbare-Leistung installiert wie nie zuvor. Die Bundesnetzagentur meldete fast 20 Gigawatt Zubau, darunter 16,2 Gigawatt Photovoltaik. Bundesweit sind über 4,2 Millionen PV-Anlagen registriert, die knapp 98.000 Megawatt erreichen. Gleichzeitig wächst der Strombedarf durch Wärmepumpen, Industrieprozesse, Rechenzentren und Ladeinfrastruktur schneller, als Netze ausgebaut werden. Die großen Nord-Süd-Trassen liegen laut Bundesrechnungshof fünf bis sieben Jahre zurück. So müssen im Süden fossile Kraftwerke hochfahren, während im Norden Windparks abgeregelt werden. Der Redispatch kostet inzwischen über vier Milliarden Euro im Jahr. Auch beim Thema Speicher bleibt Deutschland hinter internationalen Entwicklungen zurück, weil Regulierungen Investitionen erschweren und viele Projekte länger in der Vorbereitung hängen bleiben, als es technisch nötig wäre.
 

BEEINDRUCKENDE ZAHLEN, BRÜCHIGE REALITÄT


Auch die Mobilität zeigt ein widersprüchliches Bild. Im ersten Halbjahr 2025 wurden rund 248.700 E-Fahrzeuge neu zugelassen, im September 46.000 reine Batterieautos. Doch Unternehmen, die Flotten elektrifizieren wollen, stoßen auf Anschlusszeiten von über zwölf Monaten, fehlende Zusagen oder unklare Kosten. Zugleich wächst der Druck aus China, wo Batterien günstiger produziert und Wertschöpfungsketten konsequenter aufgebaut werden. Europäische Hersteller müssen dagegen mit langen Investitionszyklen und politischer Unsicherheit umgehen. Kommunen wiederum sollen Ladepunkte genehmigen, Verkehrsflächen neu ordnen und ÖPNV-Angebote ausbauen – oft mit zu wenig Personal und Budget. Die Folge sind Verzögerungen, die den Hochlauf bremsen und das Vertrauen vieler Beteiligter schwächen. Viele Verwaltungen betonen zudem, dass ihnen klare Prioritäten und langfristig gesicherte Mittel fehlen.

Energiewende und Mobilitätswende sind jedoch zwei Seiten derselben Medaille. Elektrofahrzeuge könnten Lasten verschieben und Strom aufnehmen, während Mobilität eine verlässliche Versorgung benötigt. Der Netzentwicklungsplan 2037 betont deshalb, dass Speicher- und Lastpotenziale der Mobilität Teil der Netzplanung sein müssen. Doch bislang verlaufen beide Projekte nebeneinander, mit getrennten Zuständigkeiten und Förderlogiken. Unternehmen sollen Flotten umstellen, warten aber auf Anschlüsse. Haushalte sollen Wärmepumpen und E-Autos kombinieren, obwohl örtliche Netze teils am Limit sind. Kommunen sollen Infrastruktur schaffen ohne langfristige Finanzierungssicherheit. So entsteht ein organisatorischer Reformstau, der weniger technologisch als strukturell ist und deshalb klare Entscheidungen erfordert.

Deutschland braucht eine klare Priorisierung: erst Speicher, dann Netze, dann große Verbraucher; erst verlässliche Leitplanken, dann Investitionen; erst eine abgestimmte Strategie, dann die Umsetzung vor Ort. Die Technik ist vorhanden, die Investitionsbereitschaft ebenfalls. Was fehlt, ist ein gemeinsamer Takt – und der politische Wille, beide Wenden als ein einziges System zu behandeln. Es bleibt eine zentrale Aufgabe. Und sie drängt. Genau deshalb wächst der Druck, die vorhandenen Potenziale endlich konsequent zu nutzen und Blockaden entschlossen abzubauen.

 

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