Stahl bildet das Fundament unserer Industrie in Deutschland. Und das hat seinen Preis. 20 Tonnen Kohlendioxid stoßen die Stahlwerke je Tonne aus. Kein Wunder, dass Stahl einen besonders großen Beitrag zur Reduzierung der CO2-Belastung in Deutschland leisten könnte, wenn er mit grüner, nachhaltiger Energie erzeugt wird. Denkbar ist dies im Elektroofen, weshalb bis 2030 ein Drittel der Stahlproduktion in Deutschland auf CO2-arme Verfahren umgestellt werden soll. „Wir bieten schon heute Stahl an, für dessen Herstellung wir Windenergie einkaufen und damit nur 0,05 Tonnen CO2 pro Tonne Stahl ausstoßen – bei herkömmlichem
Stahl ist es etwa das 40-Fache“, sagte Anne-Marie Großmann von der Georgsmarienhütte kürzlich in einem Interview mit der Zeit. Noch tut sich das Unternehmen schwer, die nötige Energie sicher und zuverlässig zu bekommen. Die Auflagen für eigene Windkraftwerke seien zu hoch. Die Stahlindustrie ist wohl die Branche, in der der Zusammenhang zwischen CO2 -Ausstoß und Energieeinsatz am deutlichsten wird. Doch ganz Deutschland sucht nach Wegen, die Energieversorgung mit erneuerbaren Energien zu sichern. Die gigantische Menge von 2.982 Terawattstunden Primärenergie wurde im vergangenen Jahr in Deutschland verbraucht. Noch stammen mehr als drei Viertel
der Energie aus fossilen Quellen, bis 2030 soll der gesamte Bruttoendenergieverbrauch zu 40 Prozent aus erneuerbaren Energien gedeckt werden, damit Deutschland bis 2045 klimaneutral werden kann.
Eine stabile Energieversorgung ist entscheidend für moderne Volkswirtschaften. Doch die Herausforderungen für eine vollständige Umstellung sind enorm. Es stellt sich die Frage: Schafft es Deutschland, die Energiewende so zu gestalten, dass Energie auch genau dann zur Verfügung steht, wenn sie gebraucht wird? „Die Energieversorgung ist in jeder Hinsicht sicher“, erklärte Wirtschaftsminister Robert Habeck auf dem Berlin Energy 2 Dialogue im März 2024. Das neue Energiesystem mit seinen vielen erneuerbaren Energiequellen funktioniert allerdings ganz anders als bisher. Die vielen Grundlast- und Atomkraftwerke in der Nähe der Industrien und anderen Grossverbrauchern wird es nicht mehr geben. An ihre Stelle treten moderne, effiziente Gaskraftwerke oder Stromerzeugungsanlagen wie Windparks, aber auch eine Vielzahl kleinerer, regionaler und dezentraler Kraftwerke.
Gleichzeitig wird Deutschland elektrifiziert: Experten rechnen bis 2045 mit einer Verdoppelung des Stromverbrauchs hierzulande, weil Millionen neuer Elektroautos und Wärmepumpen statt mit bisher fossilen nun mit nachhaltig erzeugtem Strom betrieben werden. Allein die Stahlindustrie in Deutschland benötigt bis 2030 bis zu 45 Terawattstunden Ökostrom, wenn sie in Zukunft emissionsarm produzieren soll.
Versorgungssicherheit bedeutet aber nicht nur den Umstieg auf neue Energiequellen, sondern auch die physikalische Sicherheit von Kraftwerken, Übertragungsnetzen und Speicheranlagen. Stürme, die Bahnstrecken zerstören, Hochwasser, das Straßen und Leitungen unter Wasser setzt, zeigen, wie klimaanfällig die Energieversorgung schon heute ist. Es muss heute kein Terroranschlag sein, der ein Großkraftwerk stilllegt. Schon wenige Monate ohne Regen reichten aus, um die französischen Atomkraftwerke an Rhein und Loire abzuschalten – und die Versorgung der rheinischen Chemieindustrie in Deutschland zu unterbrechen. Aber was, wenn in Zukunft große Stürme die Wind- und Solarkraft in Deutschland ausfallen lassen? Kommt es dann zu den befürchteten Versorgungslücken?
Für Fachleute ist vor allem ein gut gemanagtes Zusammenspiel von vielen zusätzlichen Energiequellen und Speichern notwendig, um Ausfallrisiken zu reduzieren. Die Diversifizierung dezentraler Kraftwerke, die Unabhängigkeit von externen Energiequellen, die Flexibilität bei technischen Verfahren und nicht zuletzt die Robustheit gegenüber äußeren Einflüssen stellen im Zusammenspiel die Energieversorgung sicher. Während früher 37 Kernkraftwerke Strom in Deutschland produzierten und im Jahr 2015 noch 148 Kohlekraftwerke im Betrieb waren, erzeugen Ende 2023 insgesamt 28.667 Onshore- und rund 1.566 Offshore-Windkraftanlagen Strom. Drei Millionen Photovoltaikanlagen sind heute in Deutschland aktiv. Fällt ein Kraftwerk aus, weil der Marder in die Trafostation eingedrungen ist oder weil das Windrad Sturmschäden erleidet, springen andere Energiequellen und Speicher ein.
Sogar Haus- und Wohnungsbesitzer sichern ihre Energieversorgung gegen geopolitische Risiken ab: Laut Bundesnetzagentur sind bis April 2024 rund 400.000 Balkonkraftwerke in Betrieb genommen worden. Interessant in diesem Zusammenhang: Trotz des steigenden Anteils erneuerbarer Energien im System hat sich die Versorgungssicherheit bei Strom in Deutschland nicht verschlechtert, sondern verbessert: Mit 12,2 Minuten waren die Verbraucher im Jahr 2022 deutlich seltener ohne Strom als im langjährigen Mittel mit 14,76 Minuten. Im internationalen Vergleich ist dies ein Spitzenwert, wie der „Fortschrittsmonitor Energiewende“ von EY und dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) zeigt.
Dazu kommt schließlich eine bessere Vernetzung in Europa. „Eine geringere Möglichkeit, Strom aus dem Ausland zu importieren, hat großen Einfluss auf die Versorgungssicherheit in Deutschland“, sagt Philip Schnaars, der an der Universität zu Köln eine Studie zu dem Thema erstellt hat: „Das macht deutlich, dass Versorgungssicherheit auf europäischer Ebene betrachtet werden muss.“ Und das gilt nicht nur für Strom, sondern auch für andere Energieträger wie Gas, Öl und Kohle, die fast alle aus dem Ausland geliefert werden müssen: Wie bei allen Energieträgern sorgen langfristige Lieferverträge und viele unterschiedliche Lieferanten für sichere Versorgung.
Wie schnell und flexibel aber ein Land reagieren kann, wenn ein Lieferweg wegbricht, zeigt vor allem ein Beispiel: der plötzliche Ausfall von russischem Erdgas nach dem Überfall auf die Ukraine. Innerhalb weniger Monate gelang es Deutschland, eine neue Energieversorgung aufzubauen und die Versorgungssicherheit weiter zu gewährleisten.