»Deutschland ist keine Teflon-Ökonomie«

Deutschland wird nach allen Prognosen weiter wachsen. Dennoch fürchtet Professor Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Kieler Institut für Weltwirtschaft, schwerwiegende Folgen aufgrund der europäischen Niedrigzinspolitik.
Interview
Illustration: Adrian Bauer
Interview: Mirko Heinemann Redaktion

Herr Kooths, welche Auswirkungen hat der Einbruch der chinesischen Wirtschaft auf Deutschland?

 

Derzeit sind die Auswirkungen noch vergleichsweise schwach. Aber die Entwicklung in China bleibt ein Risiko. Unsere Simulationen zeigen, dass dort eine Wachstumsrezession, bei der sich die Zuwachsrate der Produktion von derzeit 6,5 Prozent auf etwa 3,5 Prozent fast halbiert, die Dynamik der Weltwirtschaft kurzfristig um ein Prozent dämpfen würde. In Deutschland würde das Expansionstempo etwa einen halben Prozentpunkt verlieren. Die größte Unsicherheit geht jedoch von der Politik aus, denn die Reaktion der chinesischen Regierung auf die dortigen Veränderungen ist kaum kalkulierbar.

 

Leidet die deutsche Exportwirtschaft bereits?

 

Derzeit werden die Einbrüche in China kompensiert durch eine kräftigere Entwicklung in anderen Teilen der Welt, insbesondere in den USA. Mittelfristig sehen wir für die Entwicklung der Gesamtexporte ein jährliches Plus von gut sechs Prozent.

 

Und die deutsche Fahrzeugindustrie?

 

Sie ist in China ja vor allem als Produzent und weniger als Exporteur unterwegs. Wie sich die Manipulation der Abgaswerte bei VW insgesamt auf den Absatz deutscher Fahrzeuge in den USA auswirken wird, ist schwer zu sagen. Es mag helfen, dass VW dort bislang nicht als Premiumanbieter wahrgenommen wird.

 

Welche Auswirkungen wird die schwächere Entwicklung in Fernost auf die Automobilhersteller haben?

 

Eine Verlangsamung des dortigen Wachstums für die deutschen Automobilhersteller, wie es sich jetzt abzeichnet, relativiert sich vor dem Hintergrund der Erfolgsgeschichte: Das rasante Wachstumstempo war so oder so nicht auf Dauer zu halten. Trotzdem ist – unabhängig von den aktuellen Turbulenzen – immer noch viel Luft nach oben. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr gingen sechs Prozent aller deutschen Neuwagen-Exporte nach China. In die Nafta-Region gingen 17 Prozent, nach Westeuropa 51 Prozent.

 

Wie sehen Sie die gesamtkonjunkturelle Entwicklung?

 

Die deutsche Wirtschaft operiert im laufenden Jahr ungefähr bei Normalauslastung. Die 1,8 Prozent Produktionszuwachs, die wir für 2015 erwarten, sind mit den gegebenen Kapazitäten noch spannungsfrei machbar. Wir gehen aber davon aus, dass wir 2016 und 2017 mit Raten zulegen werden, die oberhalb dessen liegen, was das Kapazitätswachstum hergibt. Es besteht also die Gefahr, dass wir in die Überauslastung expandieren. Und das ist keine gute Nachricht.

 

Was soll an kräftiger Expansion schlecht sein?

 

Nicht wenige werden sich vermutlich an den höheren Zuwachsraten berauschen – und zwar buchstäblich. Bei einer Potenzialrate von 1,4 Prozent – höher sind die jährlichen Kapazitätszuwächse hierzulande nicht – bedeuten Produktionszuwächse um voraussichtlich 2,1 Prozent im nächsten Jahr und 2,3 Prozent in 2017, dass wir unsere Produktionsmöglichkeiten überstrapazieren und allmählich in die Hochkonjunktur driften. Das ist keine stabilitätsgerechte Entwicklung. Eine Volkswirtschaft würde besser fahren, wenn sie sich nahe an den Produktionsmöglichkeiten entwickelt. Jede Abweichung nach oben ist eine Überhitzung, die schmerzhaft korrigiert werden muss. Unsere Prognose einer Korrektur zielt auf den Zeitraum 2019 oder 2020. Bis dahin sieht es also aus, als könnten sich die Aufschwungskräfte weiter entfalten – auch weil wirtschaftspolitisch niemand bremst.

 

Wo liegen die mittelfristigen Gefahren?

 

Getrieben wir das Wachstum von einem Investitionsaufschwung, der angesichts der vermeintlich günstigen Entwicklung die Gefahr von Fehlinvestitionen und von staatlichen Fehlentscheidungen steigen lässt. Im Sog des Aufschwungs steigt die Sorglosigkeit, nicht nur beim Thema Mindestlohn. Aber Vorsicht: Deutschland ist keine Teflon-Ökonomie, an der jede Herausforderung abperlt oder wo sich ökonomische Gesetzmäßigkeiten durch Wunschdenken außer Kraft setzen ließen.

 

Fürchten Sie eine neue Finanzkrise? 

 

Zumindest steigt die Gefahr, dass der Aufschwung mit Schulden finanziert wird, die sich später nicht bedienen lassen. Noch sehen wir das in Deutschland nicht im großen Stil – andernfalls wäre es auch schon zu spät. Aber Sorgen muss machen, dass eine wichtige Triebfeder der Überhitzung im ultraexpansiven monetären Umfeld zu sehen ist .... 

 

Sie spielen auf die Nullzinsphase an, die seit fünf Jahren andauert...

 

...und die zumindest für Deutschland überhaupt nicht angemessen ist. Sie wird sich wohl auch noch längere Zeit fortsetzen. Selbst wenn wir 2017 vielleicht erste Versuche der EZB sehen werden, die Zinsen allmählich anzuheben, werden sie für Deutschland immer noch viel zu niedrig sein. Das ist genau die Mixtur, aus der sich Stabilitätsgefahren für die Finanzwirtschaft ergeben. Die Jagd nach Rendite führt dazu, dass die Risiken in der Finanzwirtschaft nicht mehr adäquat bepreist werden.

 

Ist die Euro-Krise denn überwunden?

 

Sie ist vertagt, nicht überwunden. Die europäische Währungsunion hängt am Tropf der Niedrigzinspolitik. Einfache Antwort via Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, morgen erklärte die EZB, das OMT-Versprechen werde ausgesetzt, das Anleihekaufprogramm beendet und die Normalisierung des Zinsniveaus zügig eingeleitet. Dann wäre die Krise wieder brandheiß zurück auf dem Tisch. Die Probleme sind aber nicht monetärer Natur – sie werden nur geldpolitisch überdeckt. Die Zeit, die die Notenbanker angeblich kaufen, wird nicht genutzt, um die Strukturprobleme anzugehen und von den hohen Verschuldungspositionen herunterzukommen.

 

Deutschland fungiert in Europa nach wie vor als Wachstumslokomotive. Was macht die deutsche Stärke eigentlich aus? 

 

Vor allem, dass sie von allen Seiten überschätzt wird. Die europäischen Partner klammern sich an die Illusion, Deutschland könne deren Probleme lösen. Im Inland meint man, sich eine vermeintliche staatliche Wohltat nach der anderen genehmigen zu können, nur weil die Konjunktur gerade gut läuft. Reformstillstand und Reformrückschritte – Mindestlohn, Mütterrente, Rente mit 63 – werden sich spätestens in der nächsten Rezession rächen. Zu Recht wird hervorgehoben, dass Deutschlands wichtigste Ressource, neben unserem Sachkapitalstock, als Wissen und Können in unseren Köpfen steckt. Zu diesem Schatz gehört auch das Wissen um eine wohlstandsförderliche Gestaltung des Ordnungsrahmens einer funktionsfähigen Marktwirtschaft. Je mehr wir von diesem Wissen Gebrauch machen, desto besser kann sich das Land entwickeln.

 

Sind die Flüchtlinge eine Bedrohung für die deutsche Wirtschaft?

 

Flüchtlinge bedrohen niemanden, sie werden bedroht – sonst wären sie nicht auf der Flucht. Ökonomisch bieten sie für das alternde Deutschland Chancen, sofern wir unsere Arbeitsmärkte nicht verriegeln. Wenn in größerer Zahl Menschen zuwandern, kann dies nicht ohne Einfluss auf die markträumenden Löhne bleiben, da ein vermehrtes Arbeitsangebot auf einen bestehenden Kapitalstock trifft und damit die Grenzproduktivität der Beschäftigten zunächst sinkt, bis der Kapitalstock an den höheren Beschäftigungsstand angepasst sein wird. Dies gilt insbesondere für geringqualifizierte Menschen.

 

Sie fürchten die Gefahr, dass Migranten durch den gesetzlichen Mindestlohn aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden?

 

So ist es, wobei der Mindestlohn nur ein Aspekt ist, weil die Lohnfindung insgesamt stark reguliert wird. Generell behindern verbindliche Lohnsätze den Einstieg in den Arbeitsmarkt, zumal wenn Sprachschwierigkeiten und andere kulturelle Barrieren die Produktivität der Zugewanderten schmälern. Wenn sie diese Produktivitätsnachteile nicht durch entsprechende Lohnnachlässe kompensieren können, bleiben sie de facto vom Arbeitsmarkt ausgesperrt. Wie muss man sich wohl als arbeitswilliger Zuwanderer fühlen, wenn einem amtlich verboten wird, ein Stellenangebot anzunehmen, um vor vermeintlicher Ausbeutung geschützt zu werden? Hinzu kommen weitere Behinderungen für Asylbewerber etwa in Form von Vorrangprüfungen für EU-Bürger. Daher nochmals: Arbeitsmärkte öffnen.

»Wenn Migranten Produktivitätsnachteile nicht durch entsprechende Lohnnachlässe kompensieren können, bleiben sie de facto vom Arbeitsmarkt ausgesperrt.«

Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Kieler Institut für Weltwirtschaft

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