Superblocks an der Spree

Immer mehr Städte verbannen das Auto aus ihren Zentren und definieren urbane Mobilität neu – inzwischen sogar die deutsche Hauptstadt.
Illustration: Johannes Fuchs
Kai Kolwitz Redaktion

Ab Sommer 2020 probiert Berlin das Undenkbare. Die Friedrichstraße, Durchgangs-, Einkaufs- und Bürostraße im östlichen Zentrum, soll autofrei werden. Für sechs Monate zunächst, von Juni bis November. Für die Tauentzienstraße, die Verlängerung des Kurfürstendamms mit dem Kaufhaus des Westens als Aushängeschild, plant der Bezirk ähnliches. Hier ist zwar noch nicht alles in trockenen Tüchern, doch trotzdem haben die beiden Vorhaben fast revolutionären Charakter.


Denn lange Jahre tat sich die Bundeshauptstadt extrem schwer damit, Entscheidungen zu treffen, die zulasten des Autos gingen. Doch nun scheint sich der Stau langsam zu lösen: Langsam, aber stetig werden immer mehr mit Pollern gegen Falschparker geschützte Radwege markiert, auch Parkplätze dürfen dafür inzwischen wegfallen. Sperrungen sind nicht mehr tabu, zum ersten Mal seit langer Zeit wird eine Erweiterung des U-Bahn-Netzes im großen Stil diskutiert.


Anzeichen eines Paradigmenwechsels.


Andere Städte sind da bekanntermaßen schon deutlich weiter. In der heutigen Fahrradmetropole Kopenhagen zum Beispiel stand in den 1970er-Jahren nicht grüne Weltsicht am Anfang des Umsteuerns in der städtischen Verkehrsplanung, sondern schlichter Pragmatismus: Man machte damals die Rechnung auf, dass es die Kommune deutlich billiger kommen würde, gute Voraussetzungen für den Radverkehr zu schaffen und so die Bürger zum Umsteigen zu motivieren, als Jahr für Jahr Millionen in den Ausbau von Autoverkehrsinfrastruktur zu stecken.


 Seitdem sind die Dänen kontinuierlich am Ball geblieben, haben evaluiert, neue Ideen entwickelt, getestet und die Bevölkerung befragt. Das Ergebnis der stetigen Bemühung ist die wahrscheinlich fahrradfreundlichste Stadt der Welt, in der an Ampeln wartende Radler sogar Fußstützen oder in Fahrtrichtung geöffnete Mülleimer vorfinden – und in der infolgedessen Menschen auf dem Fahrrad sitzen, die in einer Stadt wie dem heutigen Berlin im Traum nicht daran denken würden.


Aber auch in der deutschen Hauptstadt hat sich die Art, wie die Menschen von A nach B kommen, unübersehbar verändert. Allein schon deshalb, weil es so viel mehr Möglichkeiten gibt: Die Verkehrsbetriebe und der private Anbieter Clevershuttle steuern Minibusse durch die Stadt, die sich per App zur nächsten Straßenecke bestellen lassen. Und alles kann geteilt und spontan vom Straßenrand gemietet werden: Fahrräder, elektrische Motor- wie auch Tretroller. Und auch Autos, wenn man möchte.


Die Statistik trägt dem Rechnung: Nach den jüngsten Zahlen werden inzwischen 18 Prozent aller Wege in der Stadt mit dem Rad zurückgelegt, nachdem es vor fünf Jahren noch 13 Prozent waren. Der Anteil des Autoverkehrs sank von 30 auf 26 Prozent, 30 Prozent der Wege werden zu Fuß erledigt, 27 Prozent per Bus und Bahn. Experten sagen, nur wegen solcher Verschiebungen sei der Verkehr in der wachsenden Hauptstadt noch nicht komplett zusammengebrochen.


Man kann gespannt sein, ob sich durch die Corona-Krise langfristig an der Bedeutung der Verkehrsmittel in der Stadt etwas ändert. Derzeit ist die Mobilität – wie auch überall sonst – stark eingeschränkt. Aus Angst vor Ansteckung sind öffentliche Verkehrsmittel derzeit äußerst unbeliebt – und auch alles, was sich mieten lässt. Wer momentan noch fahren muss, tut das meist mit dem eigenen Auto, falls vorhanden. Oder mit dem eigenen Fahrrad. Langfristig könnte das Virus also auch in deutschen Großstädten Menschen dauerhaft aufs Rad bringen – zumal die Eingewöhnung dank der leeren Straßen deutlich angenehmer ist, als im oft ruppigen Metropolenverkehr. Anzunehmen ist aber auch, dass öffentliche Verkehrsmittel und Sharing-Anbieter sich ihr Stück vom Kuchen wieder zurückholen werden, sobald sich die Verhältnisse wieder normalisiert haben. Eins lässt sich aber gerade in Corona-Zeiten sehr deutlich erkennen: Wie sehr die Lebensqualität in der Stadt steigt, wenn weniger Autos Lärm machen, Platz wegnehmen und zu ständiger Vorsicht zwingen.


Stadtplanern ist das schon länger bewusst. Auch in Berlin werden inzwischen „Superblocks“ diskutiert, autofreie Quartiere, wie es sie in Barcelona schon gibt. Nur noch die Bewohner und der Lieferverkehr dürfen mit ihren Autos hinein, aber nur langsam und mit Rücksicht auf Fußgänger. Die Infrastruktur wurde entsprechend angepasst, auf Kreuzungen wurden Spielgeräte und Picknicktische aufgestellt, durchaus nicht zur ungeteilten Freude der Bewohner. Doch einige Jahre später will kaum noch jemand die alten Zustände zurück. Das Hauptproblem der Superblocks ist die Gentrifizierung geworden – die Attraktivität der neu aufgeteilten Stadtviertel stieg dermaßen stark an, dass sie bei Gutverdienern immer beliebter wurden.
Von solchen Zuständen ist man in Deutschland noch weit entfernt. Aber in Europa wächst die Zahl der Städte, die Verkehrsflächen wieder in Stadtraum umdefinieren: Paris machte das Seine-Ufer autofrei, Nantes optimiert das Zentrum immer mehr für Fußgänger und Radfahrer. Amsterdam setzt, wie auch Kopenhagen, schon sehr lange auf Zweiräder.


Klar ist, wenn Städte sich derartig neu erfinden wollen, dann geht das nicht durch Zwang, es gilt, die Bevölkerung mitzunehmen. Seine Wege anders zurückzulegen, darf sich in Sachen Komfort oder Kosten nicht wie ein Rückschritt anfühlen. Und es muss weiterhin Möglichkeiten geben, auch mit Gepäck, Kind und Kegel oder eingeschränkter Beweglichkeit dahin zu kommen, wo man hin will, auch mit dem Wagen, wenn es die sinnvollste Option ist. Aber weniger Autoverkehr hilft auch denen, die weiterhin selbst fahren müssen oder wollen – und die dann von freieren Straßen profitieren. Denn im Moment ist eins der wichtigsten Argumente für eine andere Organisation des Verkehrs in der Hauptstadt, dass angesichts vieler Staus, Baustellen und Sperrungen das Auto immer mehr zum unkalkulierbaren Verkehrsmittel wird. Wer pünktlich ankommen muss, der entdeckt immer mehr die Vorzüge von E-Bikes oder -Rollern, die sich ebenfalls einfach per Smartphone reservieren lassen.


Nur an einem müssen die Anbieter noch arbeiten – was weiterhin fehlt, ist die eine App, die den Überblick bietet über alle Möglichkeiten der Mobilität, die Rat geben kann, was in welcher Situation das Sinnvollste wäre und über die sich all das auch direkt buchen und bezahlen lässt. Schon seit Jahren versuchen sich diverse Anbieter an solchen Anwendungen – doch die eine, die alles kann, die fehlt noch. Aber auch das wird sich eines Tages ändern, vermutlich eher früher als später.

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